Gerade hat Herzog Cornwall die Glubscher aus den Augenhöhlen des Grafen von Gloucester gekratzt, da schmeißt er sie auch schon mit Schmackes auf den Boden. Wie das spritzt und glibbert! So schön widerlich und brutal kann nur eine Tragödie von Shakespeare sein.
In Stuttgart inszeniert Claus Peymann diese legendären Horror-Szenen aus „König Lear“ mit Lust am Schockmoment. Es ist das erste Mal seit fast 40 Jahren, dass der streitbare Regisseur sich wieder am Schlossgarten blicken lässt. Und vielleicht steckt in des Herzogs Aggression ja auch ein bisschen Stuttgarter Vergangenheitsbewältigung. Schließlich ist Peymann damals, Ende der 1970er-Jahre, regelrecht vom Hof gejagt worden. Er hatte es zuvor gewagt, am Schwarzen Brett des Hauses einen brisanten Spenden-Aufruf zu veröffentlichen: Die inhaftierte RAF-Terroristin Gudrun Ensslin benötige dringend Zahnersatz, hieß es da.
Mit 80 Jahren nun also die Rückkehr, ausgerechnet mit „König Lear“. Ausgerechnet deshalb, weil die Hauptfigur dieses Stücks alles andere als ein triumphaler Rückkehrer ist, sondern im Gegenteil ein König im freien Fall. Das Unglück nimmt seinen Lauf, als Lear sein Königreich unter drei Töchtern aufteilt. Zwei bekommen jeweils die Hälfte, weil sie ihm so schön geschmeichelt haben. Die Jüngste, eigentlich Lears Lieblingstochter, wird dagegen enterbt: Sie hat geschwiegen, als der Vater Liebesbekundungen erwartete. Schon bald erhält der König für diese leichtfertige Entscheidung die Quittung. Die Schmeichlerinnen entpuppen sich als falsche Schlangen und werfen ihren pensionierten Vater beide aus dem Haus. Eine Bleibe findet er nur noch bei Cordelia, der Enterbten.
In Peymanns schwarzem, leeren Bühnenkasten (Bühne: Karl-Ernst Herrmann) ist von diesen schwesterlichen Konkurrenzverhältnissen anfangs noch gar nichts zu erahnen. Der nach vorne abschüssige Boden deutet zwar an, dass hier einiges ins Rutschen kommen könnte. Noch aber malt König Lear (Martin Schwab mit wirrem, weißen Haar) darauf mit kindlicher Freude einen Kreidekreis: ein Abbild seines Reiches, das er mit wenigen Strichen wie einen Kuchen in drei Stücke aufteilt.
Und als der eifrige Kreidemaler seine drei Töchter zur Verteilung des Erbes ruft, kommen Cordelia (Lea Ruckpaul), Regan (Caroline Junghanns) und Goneril (Manja Kuhl) einträchtig in ihren Sonntagskleidchen hereingetanzt. Es ist eines jener Familientreffen, die aus Sicht der erwachsenen Kinder parallel auf zwei Ebenen ablaufen. Erstens der vordergründigen – mit freundlichen Worten für den greisen, längst schon tatterigen Vater. Zweitens der hintergründigen – mit heimlichem Augenrollen und vielsagendem Seufzen angesichts seines senilen Geschwätzes: Dieser Alte, jetzt will er auch noch, dass wir ihm unsere Liebe beweisen!
Gonerils überzogenes Gesäusel („Mehr lieb’ ich Euch, als Worte je umfassen!“) erscheint vor diesem Hintergrund plötzlich gar nicht mehr berechnend, sondern vielmehr menschenfreundlich: ein Theaterspiel für den unzurechnungsfähigen Alten. Mag sein, dass Cordelia ganz richtig liegt, wenn sie erklärt, ihr sei so eine väterliche Liebesprüfung einfach zu dumm. Vielleicht aber hat sie auch einfach nicht erkannt, dass im Umgang mit Eltern die Lüge manchmal barmherziger ist als die Wahrheit. Und dass zur Strafe für die Wahrheit Enterbung droht.
Diese raffinierte Setzung gleich zu Beginn ist Peymanns Meisterstück an diesem Abend. Denn im Verständnis für das Handeln der vermeintlich bösen Schwestern entuppt sich die ganze Tragödie unversehens als Lehrstück über den Generationen-Konflikt. Auf der einen Seite stehen die Alten, verkörpert von König Lear und dem Grafen Gloucester (Elmar Roloff), die nicht fassen können, wie die Jugend von heute so egoistisch, intrigant und gewalttätig werden konnte. Auf der anderen Seite stehen die Jungen, wie etwa der uneheliche Grafensohn Edmund (Jannik Mühlenweg), die in schönster Offenheit darlegen, wie ihre Väter sie mit ihren Liebes- und Dankbarkeitserwartungen zu egoistisch intriganten Gewalttätern gemacht haben.
Riskiert der politische Vorkämpfer Peymann hier etwa einen Schuss Selbstkritik? Spürt er mit Shakespeare einer jungen Generation unserer Tage nach, die ihre Väter und deren linksliberales Erbe verächtlich macht, statt sie voller Dankbarkeit zu lobpreisen? In jedem Fall skizziert Peymann einen Staat, der in zwei Hälften zerfällt, eine dunkle und eine helle. Die Trennlinie zwischen beiden Lagern haben einst die Väter gezogen, doch diese Zeiten sind vorbei. Denn jetzt drehen die Jungen den Spieß um. Die Braven werden kurzerhand zu Verbrechern erklärt, die Verbrecher dagegen zu den braven Bürgern. Bald wissen die Alten selbst nicht mehr, wer gut ist und wer böse in diesem Land.
Graf Gloucester verliert in diesem Chaos sein Augenlicht, König Lear verfällt dem Wahnsinn. Wie so oft bei Shakespeare türmen sich bald die Leichenberge. Die Jungen haben diesen Staat zwar in den Abgrund gestürzt, den Keim dafür aber legten ihre Eltern.
Weil Peymann sein Gespür für Timing und Personenführung nicht verloren hat, ist das Ganze ein wahres Schauspielfest. Großartig, wie Martin Schwab den halsstarrigen König auf seinem Weg vorwärts ins Alter und zugleich rückwärts in kindliche Verhaltensweisen beschreibt. Eindrucksvoll, wie Lea Ruckpaul in ihrer Doppelrolle als Cordelia am Anfang und Ende des Dramas sowie als Narr zwischendurch eine Verwandtschaft dieser beiden Figuren erkennbar werden lässt. Caroline Junghanns gibt Regan als herrlich unterkühlte Eiskönigin, Manja Kuhl verleiht Goneril eine dämonische Tiefe, und Jannik Mühlenweg verstört als radikaler Egomane Edmund, der seine Gefährlichkeit aus dem Umstand bezieht, dass er nichts zu verlieren hat.
Es hätte ein ganz großer Theaterabend werden können, gäbe es nicht immer wieder Anflüge von Anachronismen. Edmund etwa erinnert in seinem Yuppie-haften Aufriss – Jackett aus Schlangenleder, Stiefeletten mit Glitzerkram – eher an eine Gestalt der 80er-Jahre als an eine Figur von heute.
Am Ende sitzt Edgar (Lukas T. Sperber), der eheliche Sohn des Grafen Gloucester, als einer von wenigen Überlebenden allein auf der Bühne. Die Achterbahnfahrt durch Gut und Böse hat er so hautnah erlebt wie kein Zweiter, er galt erst als ganzer Stolz des alten Grafen, dann als dessen schlimmster Feind, am Ende wieder als bester Sohn von allen. Er sagt: „Mögen wir Jungen nie und nimmer so lange leben müssen!“
Weitere Vorstellungen am 27. Februar 2018 sowie am 2., 3., 8., 16. und 31. März, jeweils um 19.30 Uhr im Stuttgarter Schauspielhaus. Informationen auf http://www.schauspiel-stuttgart.de
Darum geht es in Shakespeares "König Lear"
König Lear geht in den Ruhestand und teilt sein Reich unter den drei Töchtern auf – vorher sollen sie ihm ihre Liebe bekunden. Ausgerechnet Lieblingstochter Cordelia weigert sich und wird zur Strafe enterbt. Nun plant Lear seinen Lebensabend, den er bei seinen beiden älteren Töchtern verbringen möchte. Doch die sind undankbar und verweisen ihn des Hauses. So zieht der greise König obdachlos durch Wind und Regen. Wie Lear hat auch Graf Gloucester ein Lieblingskind: Sohn Edgar. Dessen Halbbruder Edmund will ihm das Erbe entreißen und schmiedet eine Intrige – Edgar muss fliehen. Inzwischen hat Cordelia den König von Frankreich geheiratet, der England den Krieg erklärt. Graf Gloucester sucht Lear, um ihn darüber zu informieren. Er hofft, dass dieser zu seiner jüngsten Tochter überlaufen kann. Doch Edmund verrät ihn bei den älteren Lear-Töchtern, die sich grausam rächen. Im allgemeinen Hauen und Stechen sterben bald König Lear, seine drei Töchter sowie zwei ihrer Ehemänner und auch Edmund.