Sie wäre gerne 100 Jahre alt geworden. Das erzählte Maria Beig putzmunter Freunden, die sie noch in den vergangenen Wochen im Paulinenstift in Friedrichshafen besucht hatten. Doch das schaffte sie nicht mehr. Die „Stimme Oberschwabens“ starb am Montagnachmittag im Alter von 97 Jahren. Ihre Tochter war bei ihr.
Sie kam spät zu literarischem Ruhm. Und sie war dafür – blickt man auf ihre Biografie – eigentlich nicht vorgesehen. 1982, da war sie 60 plus, erschien ihr erster Roman „Rabenkrächzen“. In dem Erstlingswerk, dem sie bescheiden den Untertitel „Eine Chronik aus Oberschwaben“ gab, berichtet sie von vier Bauernfamilien auf vier großen Höfen in der Gegend um Meckenbeuren. Der Roman durchmisst auf 120 Seiten „prozessionsartig“, wie Peter Blickle, Mitherausgeber ihrer Werkausgabe, notiert, nahezu 100 Jahre – vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart der Autorin.
Das Manuskript dieser bedrückenden Geschichte, in der „eine Spur zu viel geboren, gestritten, gestorben und geweint“ wird, wie die Autorin später einräumt, landete über Umwege bei Martin Walser in Nußdorf. Walser las das in feiner Druckschrift verfasste Manuskript über eine sperrige Bauernschaft im Mikrokosmos des dörflichen Lebens mitsamt der politischen und kriegerischen Ereignisse der jeweiligen Epochen, die dem gebürtigen Wasserburger nicht ganz fremd waren, und kam nicht los davon. Der Patron, wie ihn die Hiesigen nennen, besorgte für „Rabenkrächzen“ den Verlag und schrieb ein hymnisches Nachwort: „Nichts auf der Welt scheint ihr zwei Sätze wert zu sein. Aber einen Satz ist alles wert. … Stell Dir vor, Maria Beig gäb’ es nicht, oder sie hätte nicht geschrieben! Dann wäre das alles sang- und klanglos untergegangen.“ Dem Debüt sollten sieben weitere Romane, mehr als 50 Erzählungen sowie der Band „Mein Lebensweg“ folgen.
Maria Beig musste für ihre Bücher wenig dazuerfinden, sie schöpfte aus einer Lebenswelt, die sie am eigenen Leibe erfuhr, ja erlitt. Die „Sagerin“, wie Walser sie nannte, wurde am 8. Oktober in der Nähe von Tettnang in eine Bauernfamilie hineingeboren. Maria wuchs als sechstes von dreizehn Kindern in ärmlichen und bildungsfernen Verhältnissen auf. Kindheit und Jugend waren aber nicht allein durch Existenznöte und andere Entbehrungen gekennzeichnet, sondern auch durch eine lieblose Erziehung: „Bei Vater“, notierte sie einmal, „war jede Berührung undenkbar. Zwar, Zweijährige nahm er auf den Arm. Dreijährige noch an die Hand. Danach kann man mit Vaters Hand nur noch in Berührung, wenn man Schläge bekam.“
Dass sie dem Landleben entkam, etwas anderes geworden ist als ihre „ledigen Tanten auf den Höfen“, denen sie in dem Roman „Hochzeitslose“ (1983) ein Denkmal setzt, verdankte sich einigen Zufällen – und ihrem starken Willen. Nach dem Besuch der Frauenarbeitsschule ergab sich die Möglichkeit, eine Ausbildung zur Hauswirtschafts- und Handarbeitslehrerin zu machen. Das brachte sie erstmals von zu Hause weg und schließlich in den Beruf, in dem sie, nach zwei Dienstprüfungen, Heirat und Anstellung in Friedrichshafen, von 1941 bis 1977 tätig blieb. Zum Schuldienst fuhr sie mit dem Motorrad, wie eine Fotografie von 1948 zeigt. Das war damals ungewöhnlich für eine Frau.
Die Schreibarbeit begann sie nach ihrer Frühpensionierung – „‚Fabulieren’ hieß ichs, wenn der Mann nach meinem Tun fragte.“ Sie schrieb nicht zuletzt gegen ihre Depressionen an, den „leeren Stunden“. Aber wahr ist auch, dass die früheren Jahrzehnte, die Stätten der Heimat, die Vorfahren und Verwandten, Vater und Mutter, die vielen Geschwister und die Toten sie nicht in Ruhe ließen. „Dann drängte es mich“, notierte sie, „manches schriftlich festzuhalten. Bereits am frühen Morgen spitzte ich die Bleistifte, um das zu schreiben, was mich nachts überfiel.“
Sie war dann doch selbst überrascht, dass sie beim Schreiben blieb – trotz aller Selbstzweifel, trotz aller Kritik, die sie aus der Familie erfuhr, die sich durch ihr authentisches Schreiben verraten fühlte, und aus dem Bekanntenkreis, der sich nicht hinreichend gewürdigt sah. „Das Aufhören war außer meiner Macht“, schreibt sie in ihrer Autobiografie „Ein Lebensweg“. In diesem letzten, 2009 erschienenen Buch gab sie, die vor allem auch für die unterdrückten Frauen in dem vom Katholizismus geprägten Landstrich ein offenes Ohr hatte, voller Scham ein lange Zeit von der bigotten Umwelt erzwungenes Geheimnis preis. Beig erzählt von ihrem 1974 verstorbenen nichtehelichen Sohn Ulrich, zu dem sie nicht so stand, wie sie es hätte tun müssen. Wie schwer ihr dieses Bekenntnis fiel, kann der Leser daran erkennen, dass sie in diesem Kapitel von der ersten in die dritte Person wechselt: „Seine Mutter weinte zwar heftig, doch weniger darüber, dass er nicht mehr war, sondern weil sie in dieser Rolle so sehr versagt hatte.“
„Man mag ihre Werke Heimatliteratur nennen, aber dann wäre es eine, die in die Welt hineinführt und nicht aus ihr hinaus“, rezensierte ein Kritiker der FAZ die Gesamtausgabe. Wie recht er doch hat. Die Heimat war ihr Stoff, aber sie ist hier kein Sehnsuchtsort, keine aufgehübschte Idylle. Ehrungen folgten, 1983 der Alemannische Literaturpreis und zuletzt, 2004, der Hebel-Preis. Die Gesamtausgabe ihrer Arbeiten erschien zum 90. Geburtstag. Nun ist die dritte Maria – nach den oberschwäbischen Dichterinnen Maria Müller-Gögler und Maria Menz – von uns gegangen. Unser Trost: Ihre Bücher aber bleiben.
Maria Beig: Das Gesamtwerk in fünf Bänden. Hg. v. Peter Blickle und Franz Hoben. Verlag Klöpfer & Meyer, 2010. 1964 S., 49 Euro.