Eine auffällig gekleidete alte Frau zieht rastlos durch Jerusalem, verteilt gerne mal Ohrfeigen und sucht einen Mann für ein Liebesgedicht. Christa Ludwig beschreibt Else Lasker-Schülers letzten beiden Lebensjahre so eindringlich, dass die Dichterin, die 1945 in Jerusalem starb, dem Leser nicht mehr aus dem Kopf geht.
Am Romanstoff webte Ludwig über 20 Jahre lang, das Buch, das schließlich daraus entstand, „Ein Bündel Wegerich“, sei „der Versuch einer Annäherung, nicht einer Anverwandlung“, erklärt die Autorin. Sie habe darauf geachtet, „dass ich sie weiterdenke und nicht mich, dass ich mich nicht einmische.“ Für dieses Projekt erhielt Christa Ludwig ein Stipendium vom Förderkreis deutscher Schriftsteller sowie ein Reisestipendium für ihre Recherchen in Jerusalem.
Gekleidet wie ihre Protagonisten
Das, was ihr in ihrem jüngsten Buch meisterhaft gelingt, ist überhaupt ein Markenzeichen Ludwigs, die bisher Kinder- und Jugendbücher geschrieben hat: die uneitle Zurücknahme der eigenen Person, die auf Äußerlichkeiten auch privat keinen Wert legt. Sie wohnt mit ihrem Mann in einem gemütlichen, in die Jahre gekommenen Haus in Hohenfels. Stattdessen: Konzentration auf ihre Protagonisten und die Zeit, in der sie leben.
Dazu trägt Ludwig beim Schreiben gerne, falls machbar, selbst auch Kleidung, wie sie in der jeweiligen Epoche üblich war. Gleichzeitig gelingt es ihr, sich in ihr Lesepublikum, das bis dato sehr jung war, einzufühlen, ohne sich anzubiedern. Denn: „Ich kann mich zwar in Kinder und Jugendliche reinversetzen, aber ich lebe das nicht.“
So hat sie ein unfehlbares Gespür dafür, was Kinder amüsiert, zum Beispiel Buchstabenverwechslungen. In „Fluchtballon“ erfindet sie den schreiend komischen Papagei Acki-Ocki mit Sprachfehler, der statt „a“ immer „o“ sagt und von Nichteingeweihten missverstanden wird, wenn er etwa „Kotze“ kreischt.
Else Lasker-Schüler im falschen Licht
Ludwig hat auf Lehramt studiert, aber nur kurz und sporadisch als Lehrerin gearbeitet, danach, während sie drei Söhne großzog, als freie Autorin. „Ich arbeite gern mit Kindern, wenn wir das gleiche Ziel haben.“ Letzteres lasse sich eben kaum mit Literaturvermittlung à la Lehrplan und Zensuren verfolgen, eher mit Theater- und Schreibwerkstätten, die Ludwig immer wieder leitete. Kinderbücher habe sie geschrieben, „weil das in mein Lebensumfeld passte. Else Lasker-Schüler hätte damals nicht gepasst.“ Sie denke, die Jugendliteratur habe sie jetzt aufgegeben. „Ich will jetzt Seniorenbücher schreiben“, meint sie schmunzelnd.
Ludwig betont: „Kinderbücher sind nicht schlechter, aber sie sind schlichter.“ Anfang der 1980er Jahre habe es auch eine spannende „Aufbruchszeit für Jugendbücher“ gegeben. Klar, ihre Pferdebuchreihe „Hufspuren“ gehöre vom Thema her auch zum Mainstream. „Aber wenn ich schon in den Mainstream springe, dann schwimme ich gegen den Strom.“ Sprich: Sie stelle „Wunschvorstellungen in Frage“ à la: Mädchen rettet Pferd vom Schlachthof und gewinnt mit ihm ein halbes Jahr später das Kentucky-Derby.
Es ist witzig, wie Ludwig das spontan übertreibt und sie muss selbst lachen. Der Humor zog unter anderem auch an Else Lasker-Schüler an. Lange habe man die exzentrische Dichterin als „pathetisch“ ins falsche Licht gestellt, dabei „hatte sie ein hohes Maß an Selbstironie.“ Die Gedichte Lasker-Schülers verschlang Ludwig schon als Vierzehnjährige. Da war sie fast schon eine reife Leserin. Denn laut einem Buchprospekt wurde Christa Ludwig „1955 im Alter von sechs Jahren geboren, als sie in der Nähe von Kassel Lesen und Schreiben lernte.“
Kaum kannte sie die Buchstaben, schrieb sie schon Gedichte, doch „erst mit Ende 30 habe ich etwas aus der Hand gegeben.“ Es war das Manuskript für ihren ersten Jugendroman „Der eiserne Heinrich“. Es ist die Geschichte des rebellischen Sohns des Stauferkaisers Friedrich II., erzählt vom Internatsschüler Alexander, der, wie Heinrich, unter einem übermächtigen Vater leidet.
Bereits ihr Debüt zeichnet Ludwigs Feingefühl für ihre Figuren auf beiden Zeitebenen aus, in denen das Buch spielt. Ludwig betont, sie schreibe „niemals, um Wissen oder eine Botschaft zu vermitteln.“ Das könne passieren, aber das sei nicht ihr Impuls, sondern, dem Leser „eine Möglichkeit zur Empathie-Erweiterung zu geben.“
Vorsicht! Schwerer Irrtum!
Vielleicht gelingt ihr das deshalb so gut, weil sie sich selbst ständig auf den Prüfstand stellt, sich und ihren Lesern offen eingesteht, dass auch sie nicht frei ist von Vorurteilen und Fehleinschätzungen, die sie dann revidieren muss. Das tut sie etwa in den Texten „Treffen im Vers“ und „Die Erde ist eine Scheibe“. Im ersten schildert sie eine Lesung vor Behinderten, die in Gebärdensprache übersetzt wird. Im zweiten warnt sie mit der wiederkehrenden Mahnung: „Vorsicht! Schwerer Irrtum!“ zuallererst sich selbst vor vorgefassten Meinungen über Autisten und andere scheinbar Randständige. Beide Texte erschienen im „Mauerläufer“, dem literarischen Jahresheft im Südwesten, an dem Ludwig seit dessen Gründung 2014 mitwirkt.
Ihre Bücher gibt seit vielen Jahren der anthroposophische Verlag Freies Geistesleben heraus. „Das schreckt viele ab“, räumt Ludwig offen ein. Sie selbst sei keine Anthroposophin, schätze aber die Waldorfpädagogik sehr. Diese vielseitige, ebenso sensible wie weltoffene, Autorin in eine bestimmte Schublade einzuordnen, wäre auf jeden Fall ein: „Vorsicht! Schwerer Irrtum!“
Zur Person
Christa Ludwig kam 1949 in Wolfhagen bei Kassel zur Welt. Sie studierte Germanistik und Anglistik in Münster und Berlin. Mit ihrem Mann zog sie vor Jahrzehnten nach Hohenfels. Das Paar hat drei Söhne. Ludwig schrieb seit 1988 bis dato über 20 Kinder- und Jugendbücher, darunter bereits 1997 auch ein Werk über Massentierhaltung: „Die Federtoten“ (heutiger Titel: „MassenHaft“). Ludwigs Hörspiel „Pendelblut“, das der NDR produzierte, wurde im August 2001 zum „Hörspiel des Monats“ gewählt. Ludwigs jüngstes Buch „Ein Bündel Wegerich“ über die Dichterin Else Lasker-Schüler ist ihr erster Roman für Erwachsene. Ludwig gehört zu den Gründungsmitgliedern und zur Redaktion des Literarischen Jahreshefts „Mauerläufer“, das seit 2014 im Südwesten erscheint und sich selbst als „regional, radikal und randständig“ charakterisiert. (flo)