Jonas Milk

1000 DIN-A4-Blätter waren es, die 1969 zu den ersten Ermittlungen im Zusammenhang mit dem KZ-Außenlager in Friedrichshafen führten. 1000 Blätter, die die Schuld des SS-Mannes Johannes Grün am Tod zweier Insassen beweisen sollten und die am Ende trotzdem nicht ausreichten. „Es ist unglaublich“, sagt Christa Tholander heute über das damalige Vorgehen. Denn in den Unterlagen und Zeugenbefragungen von damals hätten sich klare Hinweise finden lassen, dass die Getöteten im Krematorium in Lindau verbrannt wurden. Doch diesen Spuren, so Tholander, sei man damals nicht nachgegangen, ansonsten hätte man Grüns Opfern wohl zumindest juristisch Gerechtigkeit widerfahren lassen können.

Es sind unerklärliche Fehler wie diese, die die Historikerin Tholander bis heute fesseln und – das merkt man schnell – manchmal zur Verzweiflung bringen. Es waren nur Ausschnitte aus ihrer umfangreichen Arbeit, die sie am Mittwoch im Stadtarchiv präsentierte. Doch es waren Fakten, Zahlen und Schicksale, die ausreichten, um einem nach allem, was man glaubt zu wissen, noch den Atem stocken lassen.

„Die beste Kennerin“, wie Stadtarchivar Jürgen Oellers sie nannte, hat die letzten 20 Jahre damit verbracht, vorhandenes Material auszuwerten, Interviews zu führen und private und offizielle Fotos aufzuspüren. Überlebende der nur knapp ein Jahr existierenden Außenstelle des KZ Dachau berichteten von einem SS-Soldaten, der mit seiner Dogge das Lager bewachte und für seine Brutalität bekannt war. Ein anderer Hundeführer beschrieb sein eigenes Tier später als „harmlos und verspielt“. Ob das zutraf, ist im Nachhinein schwer zu beurteilen. Doch allein diese Worte, vorgetragen von Tholander, im Zusammenhang mit den Verbrechen zu hören, wirkt absurd.

Ähnlich absurd wirkt aus heutiger Sicht der Schlussvermerk der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, der in den 60er Jahren über die hiesige KZ-Außenstelle schrieb, sie sei „mit durchschnittlich etwa 400 Häftlingen belegt gewesen“, die in drei Baracken gewohnt hätten. Mehr als drei Mal so viele waren es tatsächlich, wie Tholander beweisen kann. Dies belegen unter anderem auch Aufzeichnungen von Hugo Eckener.

Die KZ-Häftlinge wurden im Zusammenhang mit dem Bau der V2-Raketen gebraucht und ausschließlich von der Luftschiffbau Zeppelin eingesetzt. Mit der unmittelbaren Konstruktion und Montage hätten die meisten nichts zu tun gehabt. Ihre Aufgaben betraf vor allem Infrastrukturarbeiten. So errichteten KZ-Häftlinge unter anderem eine Halle auf dem Firmengelände, die allerdings schon ein Jahr später bei Bombenangriffen zerstört wurde. Der vermeintliche Einsatz für Unternehmen wie Maybach oder Dornier ist – zumindest für Friedrichshafen – unzutreffend. Laut der Historikerin geht auch diese Annahme auf einen Fehler im Schlussvermerk zurück.

Für die Häftlinge – in erster Linie politische Gefangene aus Deutschland, Polen und Russland – mag es ein Glück gewesen sein, gebraucht zu werden. Der Tod war ihnen damit ein Stück ferner als jenen, die in den Vernichtungslagern auf ihr Schicksal warten mussten. Doch auch in Friedrichshafen war Gewalt an der Tagesordnung. Zu den Strafen, die Lagerleiter Georg Grünberg verhängte und teilweise selber ausführte, gehörte der so genannte „Bock“. Die vermeintlich Schuldigen mussten sich über eine Art Tisch beugen. Ihnen wurde eine Decke über den Kopf gezogen, dann wurde mit der Prügelstrafe begonnen. Die Schläge sollten sie mitzählen. „Sie kamen meist nur bis 18. Dann verloren sie meist das Bewusstsein“, lautet eine später aufgezeichnete Zeugenaussage.

Häftlinge, die bei Fluchtversuchen erwischt wurden, wurden erschossen. Vor allem eine Abwasseranlage wurde zu solchen Ausbrüchen genutzt. Durch Hinweise aus Kreisen der Insassen sei man auf diesen Weg aufmerksam geworden, berichtete ein ungenannter SS-Mann später. Danach wurden Wachen an den Ein- und Ausgängen postiert und man wartete, bis im Tunnel Geräusche zu hören waren.

18 Todesfälle hat die Zentralstelle in Ludwigsburg damals für Friedrichshafen vermeldet. Davon zwölf durch Luftangriffe, sechs durch andere Umstände – ermordet wurde angeblich niemand. Mindestens 42 waren es tatsächlich, wie Tholander inzwischen recherchiert hat und sich vor allem die vorhandenen Unterlagen des Krematoriums in Lindau anschaute. Fast alle kann sie inzwischen namentlich nachweisen. Von 19 weiteren allerdings fehlt ihr bis heute jede Spur. Ihre Erkenntnisse werden nächstes Jahr im Friedrichshafener Jahrbuch ausführlich publiziert. Und vielleicht gibt es bis dahin schon neue Erkenntnisse. Auch bisher habe ihre Arbeit viel aus „Zufällen und den richtigen Umständen bestanden“, wie sie selber sagt.