Natürlich habe sie Lust auf die Kanzlerkandidatur, sagte die AfD-Bundesvorsitzende Alice Weidel im Sommer 2023. Sie wäre eine sehr gute Kanzlerkandidatin, sekundierte ihr Vorstandskollege Tino Chrupalla ein Jahr später. Nun könnte es ab dem 5. Oktober tatsächlich dazu kommen, wenn die AfD in der Ulmer Donauhalle zu ihrem Aufstellungsparteitag für die Bundestagswahl im nächsten Jahr zusammenkommt. Doch ausgerechnet in Weidels Heimatverband in Baden-Württemberg ist die Stimmung bei einigen Mitgliedern schlecht.
Denn Alice Weidel sage nicht die Wahrheit über ihren Hauptwohnsitz – den sie selbst mit Überlingen angibt, woran aber berechtigte Zweifel bestehen. Mit ihrer Familie lebt sie nämlich in Einsiedeln in der Schweiz. Das Gesetz sagt: Hauptwohnsitz ist dort, wo der Lebensmittelpunkt ist. Und der ist bei der Familie. Lügt Weidel also über ihren Wohnsitz?
Auch ein Kanzler darf im Ausland wohnen
Es ist wichtig festzuhalten, dass Bundestagsabgeordnete und hypothetisch auch eine Kanzlerin ihren Hauptwohnsitz im Ausland haben dürfen, nichts daran ist verboten. Es geht hier um die Frage, ob Weidel die Wahrheit sagt oder nicht.
Auf Anfrage schreibt ihr Sprecher: „Selbstverständlich ist Frau Dr. Weidel aufgrund ihrer politischen und parlamentarischen Verpflichtungen, in erster Linie in Deutschland aufhältig“ – und weicht damit aus. Gefragt war explizit nicht nach Beruf und Büro, sondern nach Familie – weil das Gesetz dort den Lebensmittelpunkt verortet.
Die Schweizer Wohnung gehört ihrer Frau
Die Wohnung in Einsiedeln gehört Weidels Frau, so geht es aus einem Grundbucheintrag hervor, der dem SÜDKURIER zugespielt wurde. Es steht dort auch nur deren Name an der Klingel. Hier aber gehen die Kinder zur Schule, hier hat die Familie Platz auf viereinhalb Zimmern.
Am Reihenhaus in Überlingen hingegen stehen beide Namen an der Klingel. Das verwundert aber nicht weiter, es ist schließlich das Haus von Weidels Eltern. Mit einer zusätzlichen vierköpfigen Familie dürfte es da eng werden.
Weidel streitet beharrlich ab
Doch Weidel streitet beharrlich ab, ihren Hauptwohnsitz in der Schweiz zu haben. In einem Fernsehinterview im Mai dieses Jahres darauf angesprochen, sagte sie: „Erst mal wünsche ich mir einen deutlich entspannteren Umgang mit internationalen Ehen, es stimmt, dass meine Frau Schweizer Staatsbürgerin ist. Und ich bin mehrheitlich in Deutschland unterwegs und halte mich in Deutschland auf und darum ist Deutschland auch mein Hauptwohnsitz.“ Auch auf weitere Nachfragen bleibt sie dabei.
Wäre ihr Hauptwohnsitz in Überlingen, läge zumindest nahe, dass dort in gewisser Regelmäßigkeit der Personenschutz des Bundeskriminalamtes vor Ort wäre, Alice Weidel gehört zu den am meisten gefährdeten Politikern des Landes. Konkrete Nachfragen dazu beantworten – verständlicherweise – weder ihr Büro noch das BKA.
Den Personenschutz übernehmen offenbar die Schweizer
Von dort heißt es aber grundsätzlich: „Bei der Durchführung von Personenschutzmaßnahmen im Ausland haben Angehörige des BKA allerdings keine hoheitlichen Befugnisse. In diesem Falle sucht das BKA die enge Abstimmung mit den zuständigen Behörden des Gastlandes.“
So geschehen etwa vor einem Jahr, als Alice Weidel wegen eines „sicherheitsrelevanten Vorfalls“ mit ihrer Familie der Empfehlung gefolgt war, „einige Zeit ihrer häuslichen Umgebung fernzubleiben, welche ein mutmaßliches Anschlagsziel war“, wie damals ihr Sprecher sagte. Es war wiederum ein Sprecher der Polizei im Kanton Schwyz, der den Einsatz bestätigte.
Hier wurde der Lebensmittelpunkt also indirekt bestätigt. Und auch eine SÜDKURIER-Anfrage beim Meldeamt des Bezirks Einsiedeln beweist, dass Weidel dort gemeldet ist – auch wenn ihr Name nicht an der Klingel steht. Über die betreffende Person könne keine Auskunft erteilt werden, heißt es in der Antwort. So schreiben es die Behörden, wenn eine Auskunftssperre vorliegt. Ist eine Person gar nicht am Ort gemeldet, dann schreiben sie entsprechend das.
Kein Wahlkreisbüro am Bodensee
Bleibt die Frage, warum Weidel nicht zugeben möchte, dass sie ihren Lebensmittelpunkt in der Schweiz hat. Sie unterhält ja auch – durchaus zum Unmut einiger Parteifreunde im Südwesten – kein Wahlkreisbüro am Bodensee, ist für Wählerinnen und Wähler also nicht vor Ort ansprechbar.
„Ein Wahlkreisbüro ist bislang noch nicht gefunden, es wird aber weiter nach Objekten Ausschau gehalten. Aufgrund der Sicherheitsauflagen sind die Anforderungen, sowohl an die Immobilie wie an den Vermieter recht hoch, was die Suche nicht erleichtert“, heißt es dazu von ihrem Sprecher. Alice Weidel hat ihren Wahlkreis wohlgemerkt seit 2017 am Bodensee.
Es lässt sich also bloß spekulieren, warum Weidel auf die Erzählung vom Hauptwohnsitz in Deutschland besteht. Vielleicht ist es schlicht politisches Kalkül, denn wer Einsiedeln mit dem kurzen Weg nach Zürich und dem Blick auf die Alpen kennt, weiß: Weiter weg von deutschen Sorgen kann ein Mensch trotz räumlicher Nähe kaum sein.
Auf die Frage, weshalb sie öffentlich weiterhin abstreitet, die meiste Zeit bei ihrer Familie in der Schweiz zu verbringen, kommt lediglich der wiederholte Verweis auf ihre politische und parlamentarische Arbeit, wegen der sie hauptsächlich in Deutschland sei – dass der Lebensmittelpunkt sich auf die Familie bezieht, darauf wird nicht eingegangen.