Jörg Zittlau

Gurgeln, Knurren, Summen, ein Bier trinken und sich am Hals saugen lassen. All diese Methoden klingen nicht gerade nach einer Lösung für Kopfweh, Knieschmerzen, Depressionen und Gedächtnisschwäche. Trotzdem könnten sie helfen. Denn Studien zeigen: Wenn unser Vagusnerv gereizt wird, stehen die Weichen auf Regeneration.

Abwägen und Bequemlichkeit sind Bestandteil unseres Alltags

Soll ich mich aufraffen, das Gemüse zu zerhacken und Fleisch zu braten, um eine frische Mahlzeit zu haben? Oder doch lieber einfach das Fertiggericht in der Mikrowelle warmmachen? Kosten-Nutzen-Rechnungen sind fester Bestandteil unseres Alltags. Oft ärgern wir uns im Nachhinein, dass wir zu faul waren und uns für die bequeme Alternative entschieden haben. Doch eine Studie der Tübinger Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie zeigt nun, wie man mehr Motivation und Aktivität entwickeln kann.

Das Forscherteam um Monja Neuser und Nils Kroemer konfrontierte 85 Testpersonen mit unterschiedlichen Aufgaben, für deren Lösung sie entweder mit Geld oder einem Frühstück ihrer Wahl belohnt wurden. An ihrem linken oder rechten Ohr trugen sie dabei eine Kontaktelektrode, die entweder einen elektrischen Impuls an ihren Vagusnerv sendete, oder aber – als Plazebo – ausgeschaltet blieb.

Im Ergebnis zeigte sich, so die beiden Forscher, „dass die Stimulation die Motivation stärkt, für Belohnungen zu arbeiten“. Wobei eine wichtige Rolle spielt, auf welcher Seite der Vagusnerv gereizt wird. Links steigert es lediglich den Antrieb, sich für das Frühstück ins Zeug zu legen; rechts steigert es überdies die Bereitschaft, sich fürs Geld anzustrengen. Wer also schlank bleiben und Karriere machen will, sollte besser den rechten Vagus-Ast aktivieren, in der Hoffnung, dass er sich aufs Geldscheffeln anstatt aufs Essen fokussiert.

Stimulation des Vagus lässt Wissenschaftler hoffen

Die Tübinger Studie ist ein weiterer Meilenstein auf dem Weg einer Therapie, die gerade zum großen Hoffnungsträger der Medizin avanciert: Die Vagusnerv-Stimulation. Ihre ersten Erfolge feierte sie bei Epilepsie und Depressionen, doch mittlerweile zeigen sich auch Hinweise darauf, dass sie bei Ängsten, Demenz, Migräne, Bluthochdruck und Autoimmunerkrankungen wie Morbus Crohn und Arthritis helfen könnte.

Für diese Vielseitigkeit gibt es einen trivialen Grund: Die Stimulation betrifft ein Organ, das an fast allen Steuerungsmechanismen im Körper beteiligt ist.

Eine Zeichnung des Verlaufs des Vagusnervs.
Eine Zeichnung des Verlaufs des Vagusnervs. | Bild: Getty Images

Der Vagusnerv zieht nämlich als einziger der zwölf Hirnnerven vom Gehirn bis in den Brust- und Bauchraum, wo er sich zu Lunge, Magen, Darm, Herz und anderen Organen verzweigt, was ihm auch den Namen Vagus (lat.: der „Umherschweifende“) einbrachte. Außerdem gehört er zum parasympathischen Nervensystem, das den Körper zur Regeneration finden lässt.

Indem es etwa die Verdauung ankurbelt, Muskelspannung, Blutdruck und Pulsfrequenz senkt sowie kräftezehrende Vorgänge im Gehirn und in der Immunabwehr herunterfährt. Der Vagus spielt also in zentralen Bereichen des Körpers mit – und umso mehr er mitspielt, desto mehr sorgt er dort für Erholung und damit für eine Dämpfung potentiell krank machender Stressreaktionen.

Zweifel an Elektro-Impulsen

Es verwundert daher nicht, dass die Vagusnerv-Stimulation, wie jetzt eine Studie amerikanischer Mediziner und Biotechnologen gezeigt hat, auch bei schweren Corona-Verläufen helfen könnte. Der Grund: Sie bremst den so genannten „Zytokin-Sturm“, also jene Entgleisung von Botenstoffen und Immunabwehr, die eine Covid-19-Infektion zur lebensbedrohlichen Atemnot eskalieren lässt. Es existieren auch schon positive Fallberichte zum Einsatz der Vagus-Stimulation bei Covid-19. Klinische Studien fehlen aber noch.

Bei vielen Patienten und Ärzten allerdings – gerade in Deutschland – sorgt ohnehin für Skepsis, dass die Vagus-Stimulation mit elektrischen Impulsen am Zentralen Nervensystem arbeitet. Das erinnert an die Menschenversuche der Ärzte im Dritten Reich oder auch an Filme wie „Einer flog über das Kuckucksnest“. „Elektrostimulationstherapien haben in Deutschland generell ein Akzeptanzproblem“, sagt Psychiater Claus Wolff-Menzler vom Universitätsklinikum in Göttingen.

Dabei muss man für die moderne Vagus-Stimulation weder betäuben noch operieren. Man befestigt lediglich eine Elektrode am Ohr oder Hals, und wenn die feuert, merken das die meisten Patienten noch nicht einmal.

Schon Sport oder auch Yoga können reichen

Außerdem lässt sich der Vagusnerv offenbar, wie insbesondere von Medizinern und Psychotherapeuten in den USA propagiert wird, auch ohne Elektrizität stimulieren. Etwa durch Sport oder Entspannungsübungen wie Meditation und Yoga. Zudem sei der Nerv, wie die Medizinerin und Psychotherapeutin Cathy Malchiodi betont, mit den Stimmbändern und Rachenmuskeln verbunden, so dass man ihn mit Knurren, Grunzen und Summen anregen könnte.

„Summen Sie Ihr Lieblingslied und experimentieren Sie dabei mit der Lautstärke, bis Sie den richtigen – also beruhigenden – Pegel für sich gefunden haben“, rät Malchiodi.

Bild 2: Der Vagusnerv enthält ein Geheimnis: Was er mit Migräne und Konzentrationsschwäche zu tun hat
Bild: mhp - stock.adobe.com

Intensiv auf den Vagus wirke das Gurgeln. Dabei sei es egal, mit was man gurgle, so die Therapeutin. „Es geht vielmehr darum, dass Sie dabei das typische Geräusch erzeugen.“ Eine ihrer weiteren Empfehlungen lautet: Das Gesicht in ein Becken mit kaltem Wasser eintauchen. Denn das führt zu einer Art Tauchreflex: Der Vagus fährt aus Sorge um den vom Sauerstoff abgeschnittenen Körper hoch, um Pulsschlag und Stoffwechsel zu reduzieren und Blut in Richtung Stirnhirn zu dirigieren, damit wir einen kühlen Kopf bewahren. Die Folge: Wir werden ruhig und entspannt, aber durchaus wachsam.

Covid-19-Gegenwirkung? Eher nicht

Fraglich, ob sich durch solche Techniken auch Covid-19 behandeln lässt. Aber Niels Birbaumer will das zumindest nicht ausschließen. „Wer die Physiologie hinter dem Vagus-System kennt, begreift schnell, dass man dort auch mit einfachen und preiswerteren Methoden etwas erreichen kann“, sagt der Neurobiologe.

Er selbst hat schon deutliche Effekte auf Blutdruck, Hirnaktivitäten und Schmerzwahrnehmung erzielt, indem er einen simplen Mini-Staubsauger am seitlichen Hals ansetzte, auf Höhe des Sinus Carotis, also am Ursprung der Kopfschlagader.

Man müsse aber an dieser Stelle noch nicht einmal ein Vakuum aufbauen, so Birbaumer. „Im alten Java massierten die Frauen ihre Männer, wenn die sexuell zudringlich wurden, kurzerhand am Hals – und die kamen daraufhin tatsächlich zur Ruhe.“