Auf die Einladung zum Bier wartet Kamil Stoch noch. Das mag daran liegen, dass Sven Hannawald noch keine Zeit gefunden hat. Im Schanzenauslauf von Bischofshofen ist es zu laut für viele Worte. Als der Deutsche plötzlich vor ihm steht, zählen Gesten. Doch der Rummel ist riesig. Polens Skispringer fallen über ihren Sieger her, der seelig wie fertig im Schnee liegt. Sie schultern ihn, feiern ihn. Weil er mit 132,5 und 137 Meter am Samstag auch den vierten Wettbewerb gewinnt – und wieder den Goldenen Adler. Diesmal als Grand-Slam-Sieger. Mitten hinein in diese emotionsgeladenen Momente gratuliert Sven Hannawald und heißt Kamil Stoch im exklusivsten Klub willkommen. Nach 16 Jahren ist der Zweite, der alle vier Tournee-Springen gewinnt.
Bundestrainer Werner Schuster sagt: „Wenn einer es verdient, diesen Rekord zu brechen, dann Kamil. Er ist seit Jahren ein toller Botschafter, außergewöhnlicher Athlet und auch abseits der Schanze ein netter Kerl.“ Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki meint: „Heute bilden wir alle gemeinsam das Gefolge eines neuen Königs – Kamil.“ In einem Interview wird er als König der Schanzen begrüßt. Stoch aber sagt: „Mein Vorname ist Kamil.“
All diesen Pomp, dieses Heroisieren seiner Person braucht Kamil Stoch nicht. So technisch sauber, ästhetisch er seine Fähigkeiten in der Luft präsentiert und – wie einen Knicks bei Hofe – seinen Telemark setzt, so bescheiden ist er am Boden. Den Trubel seiner zu Tausenden angereisten Landsleute unter den 15 000 Zuschauern bekommt er nur kurz mit. Stoch klappt kurzzeitig entkräftet zusammen. Er berappelt sich und ahnt, dass nun die obligaten Mechanismen auf ihn einprasseln.
Zum Finale sendet einer der vier staatlichen polnischen TV-Sender seit dem Vormittag von der Schanze. Ein Novum. Privatsender, Radio und Internetportale sind da, um die frohe Skisprung-Botschaft an Dreikönig zu verkünden. Für die Polen ist Skispringen, was den Deutschen der Fußball bedeutet. Der Hype um Kamil Stoch ist schon nach den zwei Goldmedaillen bei Olympia in Sotschi 2014 und dem Tournee-Erfolg vor einem Jahr gigantisch. Das Vereinnahmen ihres Vorzeigeathleten hält so lange an, dass Cheftrainer Stefan Horngacher eingreift, filtert, schützt. Zu groß sind die Begehrlichkeiten. Zu ausufernd die Einladungen, zu zehrend die Reisen. Jeder glaubt ein Anrecht auf diesen Schmächtigen zu haben, der kaum körperliche Substanz besitzt. Kamil Stoch kommt bis in die Sommermonate nicht zur Ruhe.
Stoch selbst meint: „Ich bin glücklich, ich bin zufrieden, ich habe es wirklich gewollt.“ Als ob er nicht zu viel Gefühlsduselei zulassen mag, fügt er an: „Aber die Saison ist noch nicht mal bei der Hälfte, es kommt noch viel.“ So tickt Kamil Stoch. Er weiß, zu viel Drumherum lenkt ab. „Kamil ist total einsichtig. Wenn ich ihm sage, das war ein Scheiß, entschuldigt er sich fast und zieht die Konsequenzen“, sagt Horngacher. Schon als Bub bewundert Stoch jene, die sich lange unter den Besten halten. Sie sind ihm Ansporn. Längst ist er unter ihnen. Doch Stoch sagt: „Zu verbessern ist immer was.“ Das Amt des Athletensprechers gibt er ab, um mehr Zeit zum Tüfteln zu haben. Sein Anspruch ist sein hartnäckigster Gegner. Dabei rät ihm Horngacher immer wieder, „die Hektik etwas abzulegen. Er brauche niemandem mehr etwas zu beweisen.“ Nur ist es wider das Naturell Stochs, entspannter zu werden.
Bei allem Streben nach dem glücklichmachenden Gefühl ist es ein Lernprozess für Kamil Stoch, zwischen den Höhepunkten runterzufahren, um die körperlichen Ressourcen nicht nachhaltig zu verschleudern. „Man muss den eigenen Weg finden, die Zeit auszufüllen“, sagt er. „Nichts zu tun, ist nicht einfach, es kann ermüden.“ Stoch braucht Jahre für die Lösung – und verrät sie auch nicht. Mit Ehefrau Ewa eröffnet er eine Skisprungschule. Zu gerne aber würde er die Freizeit für seinen Traum nutzen: den Pilotenschein. „In der Luft fühlt man absolute Freiheit, da bist du und das Flugzeug. Und du bist der Herr übers Geschehen“, sagt Stoch. Fliegen als Zukunftsoption. Am Wochenende fliegen sie am Kulm. In zwei Wochen ist WM in Oberstdorf. Dieser Titel fehlt Kamil Stoch noch. Es klingt wie Drohung, wenn er sagt: „Ich freue mich sehr aufs Skifliegen.“
Sportler des Jahres
Vierschanzentournee-Sieger Kamil Stoch ist zu Polens Sportler des Jahres gewählt worden. Der 30-jährige Skispringer setzte sich bei der Wahl gegen Fußball-Profi Robert Lewandowski vom FC Bayern München durch. Bei der Gala wurde der Olympiasieger per Video aus Bischofshofen zugeschaltet. Für Stoch war es nicht die einzige Auszeichnung am Samstagabend: Gemeinsam mit Piotr Zyla, Dawid Kubacki und Maciej Kot wurde er auch noch zum Team des Jahres gewählt. Das Quartett gewann bei der WM in Lahti Mannschaftsgold. (dpa)