Tilman Baur

Der Stuttgarter Osten an einem Morgen im August: Jogger und Hundehalter drehen ihre Runden im Park. Im Hintergrund schlägt eine Kirchenglocke. Vögel zwitschern. Mitten auf einem wild von hohem Gras überwucherten Gelände, hinter einer Absperrung aus Bauzäunen, thront eine herrschaftliche Villa im Stil der Neorenaissance. Es ist die Villa Berg, benannt nach dem gleichnamigen Stadtteil des ehemaligen Arbeiterbezirks. Viele Stuttgart-Touristen dürften sich ob dieses Kleinods mitten in der Stadt die Augen reiben, will es doch nur schwer in das vom alltäglichen Wirbel um Feinstaubalarm, Fahrverbote und Sommerbaustellen geprägte Bild passen.



Die 1853 eingeweihte, von einem Park umrahmte Villa hatte der damalige württembergische Kronprinz Karl vom Architekten Christian Friedrich von Leins im Stil italienischer Landhäuser nachbauen lassen. Schon bald ging der europäische Adel am Neckar ein und aus. So trafen sich 1857 Zar Alexander und der französische Kaiser Napoleon III. beim „Zwei-Kaiser-Treffen“ zu Friedensgesprächen nach dem Krimkrieg – die Häuser Romanow und Württemberg waren seit Langem verbandelt.

Bereits 1915 kaufte die Stadt die Villa zum ersten Mal. Mitten im Krieg legte man 2,85 Millionen Reichsmark auf den Tisch, die Töchter von Herzogin Wera bezahlten; in der Villa verarztete man zunächst Kriegsversehrte. Nach der Sanierung im Jahr 1925 brachte man dort die städtische Gemäldesammlung unter. Zwei Jahre später empfing Stuttgart internationales Publikum zur Eröffnung der Weißenhofsiedlung, die die UNESCO mittlerweile als Weltkulturerbe führt.

Die Bomben der Alliierten, die große Teile Stuttgarts dem Erdboden gleichmachten, trafen auch die Villa Berg, die ihre ursprüngliche Beschaffenheit so für immer verlor. Wer sich dem vernachlässigten Gelände heute nähert, wittert eher morbiden Charme als königliche Noblesse. Als Drehort für Spukfilme kann man sich die Villa durchaus vorstellen. Einen pfleglichen Umgang hat sie in den letzten Jahren jedenfalls nicht erfahren.

Ein Grund dafür ist, dass sie viele unterschiedliche Besitzer hatte. Jahrzehntelang nutzte sie der Südfunk, später dessen Nachfolgeorganisationen Süddeutscher Rundfunk (SDR) und Südwestrundfunk (SWR) und beschallte die Radios der Region mit Sondersendungen aus dem eigens eingerichteten Sendesaal. Vor zehn Jahren kaufte sie ein Stuttgarter Investor, der bald darauf pleiteging. Es folgte ein Düsseldorfer Investor, bis die Stadt Stuttgart die Villa im Jahr 2016 nach zähem Ringen zum zweiten Mal erwarb – für 300 000 Euro.

Ganz aus eigenem Antrag wurde die Verwaltung aber nicht tätig. Die Bevölkerung gab den Anstoß dazu. Organisierte Gruppen wie die „Berger Bürger“ und „Occupy Villa Berg“ formierten sich und reklamierten die Villa für die Allgemeinheit: die Stuttgarter Institution solle man den Investorenhänden entreißen und den Bürgern der Stadt zur Verfügung stellen. Denn Villa und Park sind mehr als ein hübsch anzusehendes Ensemble für Architekturliebhaber. Sie sind Ausflugsziel und Kleinod mit Naherholungscharakter in einer vom Lärm und von modernen Nachkriegsbauten geprägten Großstadt. Im Zuge der neu entfachten Leidenschaft der Stuttgarter rückte die Villa Berg zunehmend ins Bewusstsein und auf die Tagesordnung der Lokalpolitiker im Gemeinderat.

Sie applaudierten dem Bürgerengagement und versprachen, sich für eine „Bürgervilla“ starkzumachen. Es folgten professionelle Bürgerbeteiligungen, bei denen die Teilnehmer ihre Ideen und Visionen einer künftigen Nutzung freien Lauf ließen. Ein „offenes Haus für Musik und mehr“ soll die Villa nun werden, in fünf Jahren soll die Eröffnung stattfinden. Darüber, wie die konkrete Umsetzung im denkmalgeschützten Gebäude aussehen soll, herrscht gleichwohl noch keine Einigkeit. Derzeit prüft ein Nürnberger Architektenteam in einer Machbarkeitsstudie, welche Vorhaben sich wie umsetzen lassen. Einige engagierte Bürger fühlen sich schon wieder außen vor und verlangen mehr Mitsprache.

Nicht jeder versteht, dass eine Bürgerbeteiligung kein Bürgerentscheid ist und dass die Verwaltung das letzte Wort über die Zukunft des Kleinods spricht. Doch eines scheint mittlerweile klar: Mittelfristig dürfen Stuttgarter sich nicht nur im Park ausruhen, sondern in „ihrer“ Villa ein- und ausgehen, so wie es einst der europäische Adel tat.

Bauzeit

Die Villa Berg in Stuttgart diente dem württembergischen Kronprinzen- und späteren Königspaar Karl und Olga als Sommerresidenz. Das Gebäude wurde von 1846 bis 1853 erbaut.