Was unsere Mütter uns beibringen, das wird zum Opfer in einer Welt, in der Geschäftsführer, Technokraten und Anwälte ein menschliches Leben nur nach monetärem Wert gewichten: 50 000 Schweizer Franken für ein totes Kind, 60 000 Franken für eine tote Ehefrau.

Diese Summen werden Yuri Balkajew (gespielt von Jevgenij Sitochin) als Entschädigung angeboten in dem ARD-Fernsehfilm, den das Erste am Mittwoch, 29. Juli, um 20.15 Uhr sendet. Die Film-Figur Balkajew ist im wahren Leben Witali Kalojew. Kalojew hat heute vor sieben Jahren, am 1. Juli 2002 beim Flugzeugunglück von Überlingen seine Frau Swetlana (44) und seine Kinder Kostja (10) und Diana (4) verloren. Mehr als eineinhalb Jahre später, im Februar 2004, tötet Kalojew den in der Unglücksnacht diensthabenden Fluglotsen Peter Nielsen, Angestellter der Schweizer Flugsicherung Skyguide am Züricher Flughafen Kloten. Nielsen hinterlässt zwei kleine Kinder und seine Ehefrau.

Wie kommt es zu dieser Tat? Wie wird der trauernde Witwer selbst zum Täter? Wie verarbeitet der Fluglotse die Unglücksnacht, bei der insgesamt 45 Kinder und 26 Erwachsene den Tod finden? Regisseur Endemann, der zusammen mit Don Bohlinger das Drehbuch verfasst hat, zeichnet die Wege dieser beiden Figuren bis zu ihrer einzigen, tödlichen Begegnung in einer kalten Winternacht nach und gibt Antwort auf die Frage nach dem „Warum?“. Sie lautet: Der trauernde Film-Vater Yuri Balkajew wird zum Täter, weil niemand Menschlichkeit zeigt, niemand sich entschuldigt, niemand die Verantwortung übernimmt für die Katastrophennacht, die ihm seine Familie geraubt hat. „Bitten Sie mich um Verzeihung!“, fordert – nein: fleht Balkajew den Lotsen an, der in dem Fernsehfilm Johann Lenders (gespielt von Ken Duken) heißt. Doch der Lotse, er entschuldigt sich nicht, so sehr er es sich – zumindest in diesem ARD-Film – auch selbst wünscht. Er ist gefangen in einem System, das eine Entschuldigung als juristisches Schuldeingeständnis wertet und deshalb verweigert. Denn eine Entschuldigung könnte teuer werden, wenn Opfer-Anwälte versuchen, bei der Flugsicherung das Maximum an Entschädigungszahlungen herauszuholen und davon ein gutes Drittel selbst einkassieren.

Regisseur und Schauspieler überzeugen mit ihrer Darstellung der Ereignisse. Der Film hält sich an viele traurige Fakten und ergänzt sie durch teils dramatische Fiktion. Im Film sucht und findet Yuri Balkajew selbst die zerschmetterte Leiche seiner Tochter in einem Waldstück bei Überlingen. Tatsächlich reist der reale Witali Kalojew aus Barcelona an den Unglücksort und muss seine verstümmelten Liebsten aufgebahrt identifizieren. Im Film hält Yuri Zwiesprache mit dem Jungen Kolja, der seine Mutter bei dem Flugzeugunglück verliert und eine neue Heimat bei Gasteltern am Bodensee findet. Im wahren Leben heißt der Junge Dima und lebt bis heute bei Dorothea und Reinhardt Martin aus Owingen-Hohenbodman, die den Waisen bei sich aufgenommen haben. Dima und Witali Kalojew haben sich sicherlich gesehen bei den vielen Trauer- und Gedenkfeiern seit der Unglücksnacht. Doch eine persönliche Beziehung haben Dima und seine Gasteltern – anders als im Film zu sehen – nicht zu dem trauernden Mann aus Nordossetien.

Andere menschliche Begegnungen spielen in „Flug in die Nacht – Das Unglück von Überlingen“, der dankenswerter Weise ohne laute Action- und Katastropheninszenierung auskommt, die entscheidende Rolle. Es gab jenes Treffen tatsächlich, bei dem Witali Kalojew den damaligen Skyguide-Geschäftsführer Alain Rossier zur Rede stellt und eine Begegnung mit dem Fluglotsen Peter Nielsen verlangt. Die Begegnung wird im Film wie in der Wirklichkeit verweigert, eine Entschuldigung ebenso. „Warum versteht uns dieser Mann nicht?“, fragt im Fernsehfilm der Chef der Flugsicherung. Die Film-Figur Balkajew gibt die Antwort: „Alle reden immer nur von Geld. Ein Schuldiger bittet um Verzeihung“: Erneut der Verweis auf zwei Werte-Systeme, die keine Verbindung zueinander herstellen können.

Gefangen in diesem Dilemma ist das spätere 72. Opfer der Unglücksnacht von Überlingen, der Film-Lotse Johann Lenders. Viele Unzulänglichkeiten – zuwenig Personal, defekte und außer Betrieb gesetzte Technik – führen zum Unglück, während Lenders gestresst und überfordert vor den Radarschirmen am Flughafen Kloten sitzt. Nach dem Unglück ist er traumatisiert, leidet wie der trauernde Vater Yuri Balkajew, will sich bei ihm und allen Angehörigen entschuldigen. Doch das wird ihm von seinem Arbeitgeber, der Flugsicherung, verweigert – auch dann, als ein internes Gutachten den Film-Lotsen von persönlicher Schuld weitgehend entlastet.

Im Film gelingt Lotse Johann Lenders sein persönlicher Befreiungsschlag erst, als er bei der Flugsicherung kündigt und eine der Opfer-Anwältinnen, die selbst ein Kind in der Unglücksnacht verloren hat, um Verzeihung bittet. Doch diese Geste rettet Lenders eigenes Leben nicht, als ihm wenig später Yuri Balkajew in dunkler Nacht die Bilder seiner toten Familie zeigt und eine Entschuldigung verlangt. Lenders bringt die Worte kein zweites Mal über die Lippen. „Aber ich habe doch…“ stammelt er im Film – und stirbt nach brutalen Messerstichen des Witwers.

Abspann: Die Flugsicherung ist erschüttert über den gewaltsamen Tod ihres Mitarbeiters. Am Flughafen Kloten trauern die Fluglotsen um Johann Lenders. Für eine halbe Stunde ruht der Flugverkehr. Natürlich nur im Film. Im wahren Leben ist das nicht geschehen. Das hätte Geld gekostet.

„Flug in die Nacht – Das Unglück von Überlingen“. ARD, 29. Juli, 20.15 Uhr. Regie: Till Endemann. Drehbuch: Till Endemann, Don Bohlinger. Mit Ken Duken, Jevgenij Sitochin u. a.