Am Ende der Ringstraße in Rastatt-Niederbühl ersäufen derzeit zwei Pumpen 18 Millionen Euro und den Mythos von der deutschen Ingenieurskunst in Beton. Hier, keine zehn Meter von den hübschen Gärten gepflegter Ein- und Zweifamilienhäuser, verläuft die Bahntrasse der Nord-Süd-Magistrale des europäischen Bahnverkehrs. Ob Richtung Basel und Süden oder Richtung Karlsruhe und weiter nach Norden – was an Güterzügen oder ICEs Deutschland und Europa zwischen Nord und Süd quert, muss hier vorbei. Tonnen von Gütern, Tausende von Bahnreisenden täglich.
Doch seit am Samstag, 12. August, gegen elf Uhr am Ende der Ringstraße die Erde in Bewegung geriet, steht der Bahnverkehr zwischen Rastatt und Baden-Baden still. Das Gleisbett hinter den Häusern bietet einen merkwürdigen Anblick. Auf einer Länge von ein paar Metern sind die eisernen Schienen leicht zerbeult. Das Schotterbett ist in die Breite gerutscht, als ob eine riesige Faust eingeschlagen hätte. Der ganze Boden scheint tiefer gelegt.
Keine fünf Meter unter dieser Trasse befindet sich an dieser Stelle die Tunneldecke einer der beiden Tunnelröhren für das Bahn-Großprojekt Rheintalbahn. 4200 Tunnelmeter unter Rastatt hindurch sind bereits fertig, nur 50 Meter fehlen noch, dann sollte „Wilhelmine“, die gigantische Tunnel-Vortriebsmaschine, 90 Meter lang, 1750 Tonnen schwer und rund 18 Millionen Euro teuer, wieder aus dem Boden und auf die oberirdisch geplante neue Rheintaltrasse stoßen. Doch am 12. August sackte der Boden ab. Wasser, Schlamm und Erdreich sollen in die Röhre eingedrungen sein, das tonnenschwere Erdreich schob nach und die Bahn löste sofort Alarmstufe Rot aus. Vier Häuser am Gleisdamm wurden evakuiert, die Bewohner, rund 20 Personen, von der Bahn in Hotels untergebracht. Das Ende der Ringstraße ist gesperrt.
Was genau in der Röhre passierte, darüber schweigt sich die Bahn aus. „Wir arbeiten mit Hochdruck daran, die Strecke wieder befahrbar zu machen“, sagt Bahningenieur Jürgen Kölmel, Leiter des Tunnelbau-Projekts Karlsruhe-Basel, gestern beim Vorort-Termin. Doch die Bahn-Verantwortlichen haben schon im Vorfeld des Pressetermins darauf hingewiesen, dass es keine weitergehende Erklärung gibt – „wir arbeiten mit Hochdruck rund um die Uhr“ bleibt die einzige Antwort auf die vielen Fragen der Journalisten, was denn eigentlich genau passiert ist und wann und wie es hier überhaupt weitergeht.
Bevor die beschädigte Bahntrasse repariert werden kann, muss zuerst der Untergrund stabilisiert werden. Auf einer Länge von 150 Metern wird deshalb die Tunnelröhre, Radius knapp zehn Meter, seit Mittwoch vergangener Woche mit Beton aufgefüllt. Samt „Wilhelmine“, die mit einbetoniert wird. 2000 Kubikmeter Flüssigbeton werden nun täglich über sieben Bohrlöcher in die Röhre gepumpt, 10 000 Kubikmeter werden es insgesamt sein. Am Freitag wollen die Ingenieure damit fertig sein – erst dann kann damit begonnen werden, die oberirdische Trasse zu reparieren. „Wann der Zugverkehr wieder aufgenommen werden kann, darüber können wir derzeit keine Aussage machen“, sagte Bahn-Pressesprecher Michael Breßmer – und schon gar nicht darüber, was auf lange Sicht aus „Wilhelmine“ und der Tunnelröhre wird.

Unterdessen gilt am Bahnhof Rastatt weiter der seit nunmehr neun Tagen anhaltende Ausnahmezustand. Wer mit der Bahn nach Süden will, muss hier in Busse nach Baden-Baden umsteigen; umgekehrt werden Bahnreisende aus Baden-Baden mit Bussen nach Rastatt gebracht. Bahnmitarbeiter mit neonfarbenen Westen dirigieren den Strom gestrandeter Reisender zu den Bahnsteigen und zu den Bussen und beantworten geduldig Fragen, soweit ihre Sprachkenntnisse reichen. Vier junge Männer, die mit ihren für eine Radtour vollgepackten Rädern von Nürnberg nach Offenburg wollen, streiten mit einem Bahnmitarbeiter herum. Zwar stehen vier Busse für die ICE-Passagiere nach Baden-Baden bereit, aber Fahrräder werden nicht mitgenommen. „Personen haben Vorrang“, erklärt der Bahnmitarbeiter und empfiehlt dem Quartett, die zehn Kilometer mit dem Fahrrad nach Baden-Baden zu fahren – „das dauert auch nicht viel länger als mit dem Bus.“
Der Bürgermeister ist sauer
„Was die Menschen hier für ein Bild von Rastatt bekommen, ist unerträglich“, schimpft Wolfgang Hartweg, Erster Bürgermeister der Stadt, der ohnehin schlecht auf die Bahn zu sprechen ist, weil die Stadtspitze praktisch erst aus den Medien von dem Erdrutsch und der Sperrung der Strecke erfahren habe und sich von der Bahn tagelang niemand im Rathaus gemeldet habe. Um den Zustand des Bahnhofs von Rastatt tobt zudem ohnehin seit Jahren ein erbitterter Streit zwischen Bahn und Stadt. Der völlig veraltete Provinzbahnhof hat keine Rolltreppen, keinen Aufzug und ist nicht barrierefrei. Fahrräder, Kinderwägen und schwere Reisegepäckstücke müssen die Treppen hinauf- und hinabgewuchtet werden.
Gehbehinderte und Rollstuhlfahrer haben ganz schlechte Karten. „Nicht einmal ausreichend Sitzbänke gibt es auf den Bahnsteigen“, bemängelt Hartweg, der zuständige Bahn-Verantwortliche habe keine Zusage auf Abhilfe gemacht.
Und hätte die Stadt nicht in Eigeninitiative vor wenigen Monaten einen Toilettencontainer am Bahnhof aufgestellt, würde am Bahnhof Rastatt jetzt noch ein ganz anderes Problem zum Himmel stinken als der Stillstand des europäischen Nord-Süd-Zugverkehrs. So ist zumindest für ein dringendes Bedürfnis der Reisenden für Abhilfe gesorgt – wenn auch nicht durch die Bahn.

Wo die Bahn überall Probleme hat
Zwischen Hannover und Berlin, auf der Rheintalbahn und der Strecke nach Wuppertal – gleich auf mehreren wichtigen Verbindungen kämpft die Bahn derzeit mit Problemen. Reisende müssen mancherorts viel Zeit und Geduld mitbringen. Ein Überblick.
- Rastatt–Baden-Baden: Die Sperrung der Rheintalbahn in Baden-Württemberg dauert inzwischen mehr als eine Woche. Wann dort wieder Züge fahren werden, ist ungewiss. Seit dem 12. August steht der Verkehr auf einer der wichtigsten europäischen Nord-Süd-Verbindungen still. An der Unglücksstelle ließ die Bahn gerade einen Tunnel für die neue Hochgeschwindigkeitstrasse nur etwa fünf Meter unter den Gleisen hindurchbohren. Wasser und Erdreich waren in die Röhre eingedrungen. Für den Personenverkehr gibt es einen Ersatzverkehr mit Bussen, Fahrgäste sollen mindestens eine Stunde mehr Zeit einplanen.
- Berlin–Hannover: Nach zwei Brandanschlägen am Wochenende gibt es weiterhin Probleme auf der Strecke Berlin–Hannover. Unbekannte Täter, möglicherweise aus dem linksextremistischen Spektrum, hatten in der Nacht zu Samstag westlich von Berlin eine Signalanlage und einen Kabelschacht angezündet und damit zwei Zugstrecken blockiert. Die gute Nachricht für die Fahrgäste: Zwischen Berlin und Hamburg fuhren die Züge gestern wieder regulär. Bis heute sollen auch in Richtung Hannover alle Reparaturen fertig sein. Die ICEs zwischen Berlin und Köln/Düsseldorf hatten 30 Minuten Verspätung.
- Wuppertal: Die siebtgrößte Stadt in Nordrhein-Westfalen ist seit Mitte Juli für mehr als sechs Wochen komplett vom Netz der Bahn abgeschnitten. In Nordrhein-Westfalen ist ein solcher Einschnitt in den Bahnverkehr beispiellos. Grund für den mehr als sechs Wochen langen Stopp ist die Einrichtung eines neuen Stellwerks für 32 Millionen Euro. Zahlreiche Busse ersetzen im Pendeltakt den Zugverkehr.