Herr Hurrelmann, was bedeutet es heute für ein Kind, in Armut aufzuwachsen, wenn man es mit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg vergleicht?

Damals wuchsen viele Kinder in absoluter, also wirklicher Armut auf. Es fehlte am Nötigsten: an Nahrungsmitteln, Getränken, an Kleidung. Heute gibt es solche Armut nur noch vereinzelt, überwiegend bei Obdachlosen. Ansonsten sprechen wir von relativer Armut. Das ist eine künstliche Größe, die berechnet wird nach dem Haushalt, in dem das Kind aufwächst und dann zutrifft, wenn dieser weniger als 60 Prozent des Durchschnittsbetrages, der in der betreffenden Region üblich ist, zur Verfügung hat. Das ist eine bittere Einschränkung für die Kinder, aber eben nicht vergleichbar mit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.

Trotz wachsender Wirtschaft und sinkender Arbeitslosigkeit bleibt die Kinderarmut in Deutschland auf hohem Niveau. Woran liegt das?

Wir haben zwar Familien, die mit Hartz-IV-Leistungen unterstützt werden. Geht man jedoch nach der Statistik der relativen Armut, so kommen deutlich mehr von Armut betroffene Kinder zum Vorschein, als wenn man nur diejenigen zählt, die Hartz-IV-Mittel empfangen. Fairerweise muss man sagen, dass es sich bei der relativen Armut um eine abstrakte rechnerische Größe handelt. Deshalb wäre es klug, im Einzelfall zu schauen, wie es bei den Familien tatsächlich mit der Wohnung aussieht, mit den finanziellen Mitteln, die im Haushalt vorhanden sind, mit den Nahrungsmitteln, mit Kleidung.

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Was würden Sie konkret tun?

Alle Erfahrungen zeigen, dass wir Kinderarmut nicht allein über Geldleistungen bekämpfen können. Wir müssen darauf achten, dass diese Kinder gute Angebote außerhalb der Familie bekommen. Alles nur über die Familie regeln zu wollen, ist aussichtslos, das schafft man nicht. Wir brauchen mehr Kindergärten und Schulen mit guten Bildungs- und kulturellen Angeboten – mit Angeboten, die Kinder stark machen.

Wie fühlt sich ein Kind, das arm ist, und welche Folgen hat dies für seine Persönlichkeitsentwicklung?

Kinder aus armen Haushalten haben ein geringes Selbstbewusstsein. Darunter leidet die Seele, ihr Selbstwertgefühl und vor allen Dingen die Bildung. Materielle Armut schlägt in eine Bildungs- und gesundheitliche Armut über. Hier anzusetzen, ist mit politischen Schritten möglich: Mit guten Kindergärten und Schulen und einem echten Ganztagsangebot. Viele Eltern sind überfordert, nicht nur, weil sie nicht genügend Geld haben, sondern weil ihnen selbst die Bildung fehlt. Eine gezielte Förderung von Kindern mit Schwächen – das ist ein Rezept mit guter Wirkung. Wir haben damit angefangen, aber der Aufholbedarf ist noch enorm.

Welche Rolle spielt es für sein weiteres Leben, wie lange ein Kind in Armut lebt?

Das spielt eine große Rolle. Für Kinder ist das ein ganz bitteres Los. Sie haben das Gefühl, dass alle anderen in Urlaub fahren können, tolle Kleider haben und ein gutes Pausenbrot in die Schule mitbringen, dass die anderen schöne Roller, Fahrräder und Smartphones besitzen. Sie fühlen sich ausgegrenzt. Das führt zu vielen psychischen Belastungen, aber zuallererst auch zu einer Unsicherheit: Wer bin ich eigentlich? Bin ich schlechter als die anderen? Sie empfinden ihre Situation als persönliche Niederlage. Das beginnt oft schon im Kindergarten, setzt sich in der Schulzeit fort, und häufig machen diese Kinder keinen Abschluss. Das Schlimme ist, dass diese auf hohem Wohlstandsniveau eigentlich kleine Benachteiligung – die Kinder haben ja ein Dach über dem Kopf und müssen nicht hungern wie Kinder in anderen Ländern – im weiteren Lebenslauf zu einer schweren Bürde wird, wenn sie anhält.

Für kleine Kinder ist es wahrscheinlich schlimmer, mit diesen Gefühlen aufzuwachsen, als für Jugendliche, die in eine solche Armutssituation geraten.

Ja, das stimmt. Das Alter spielt eine sehr große Rolle. Kleinen Kindern erscheint Armut als selbstverständlicher und unveränderlicher Prozess, als Schicksal, aus dem sie sich nicht befreien können. Jugendliche können diese Situation intellektuell schon anders reflektieren.

Gibt es ein europäisches Land, das uns Vorbild sein könnte?

Ja, Dänemark und die Niederlande. Beide Länder haben diese pragmatische Mischung aus finanzieller Unterstützung an die Familien und an Einrichtungen, die die Kinder unterstützen. Dort ist es selbstverständlich, dass alle Kinder früh in den Kindergarten gehen und in die Ganztagsschule. So, wie man sagt, dass es ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind zu erziehen: In den Schulen gibt es Sozialarbeiter, Psychologen, Ärzte und Krankenschwestern. Seit zehn Jahren haben wir viele dieser Schritte gemacht. Das Armutsniveau ist gesunken, und die Zahl der Kinder, die aus benachteiligten Elternhäusern kommen und schlechte Schulleistungen zeigen, sinkt auch. Doch noch sind die Quoten höher als im Durchschnitt der allermeisten Länder.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat zu Beginn seiner Amtszeit gesagt: „Wer Hartz IV bezieht, ist nicht arm.“ Was sagen Sie dazu?

Wer Hartz IV bezieht, ist nicht absolut arm, das stimmt. Er hat das Mindeste, das man in dieser Gesellschaft braucht, um essen, trinken und ein Dach über dem Kopf zu haben. Aber genau in dieser gefühlten, psychologischen Zurücksetzung liegt die Belastung. Und deswegen ist der Satz zwar nicht falsch, trifft aber nicht den Kern: Er übersieht, dass das eigentliche Problem bei Kindern und Jugendlichen dieses Gefühl der Benachteiligung ist – mit allen negativen Konsequenzen.

Was macht ein solcher Satz des Ministers kaputt in der Diskussion um Kinderarmut?

Er führt dazu, dass man schnodderig mit diesem Thema umgeht und schnell zu einem anderen wechselt, weil er nur eine verkürzte Wahrheit ausspricht. So gewöhnt man sich daran, mit falschen Nachrichten umzugehen. Damit wird diese seit vielen Jahrzehnten existierende sehr unangenehme Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen kaschiert.

Fragen: Birgit Hofmann