Schon beim ersten Schritt ins Bürgerhaus Adler Post zu Stockach verfehlte er fast die unterste Stufe. Alexander Dobrindt, CSU-Minister für Digitales und Infrastruktur, war noch nicht trittsicher, als er gestern die gute Stube der Stockacher betrat. Der Minister aus Berlin war der Vorladung des Hohen Grobgünstigen Narrengerichts ins Badische gefolgt, das ihn am Abend öffentlich vor Gericht stellen und verurteilen sollte. In der Verkleidung recht nachlässig, betrat der Bayer zusammen mit seinem Fürsprech Michael Nadig und seinem Redenschreiber den Saal, so wie man Dobrindt kennt: in kariertem Anzug, das schüttere Haar ohne erkennbare Scheitelung, mit einem Lächeln, aus dem gespielte Naivität hervorsprang. Narrenrichter Frank Bosch freute sich dennoch über die Pünktlichkeit des Beklagten, der die Nacht zuvor im Delinquentenzimmer des Goldenen Ochsen verbracht hatte, dort, wo die meisten auswärtigen Angeklagten eine Nacht hindurch ihrer Verhandlung entgegenzittern.

Natürlich nutzte die „hohe und allerhöchste Prominenz“ schon am Vormittag bei der Vorstellung des Beklagten die Gelegenheit, dem Minister die ganz speziellen Wünsche aus der Region ans Herz zu legen. Unter den Gästen fand sich der Schweizer Ex-Diplomat Thomas Borer, bekannt als unermüdlicher Lobbyist des Zürcher Flughafens. Und natürlich Stockachs Bürgermeister im 23. Amtsjahr Rainer Stolz, der Dobrindt vorstellte als einen „Minister, der weiß, wo im Landkreis Konstanz Verkehr stattfindet“. Deshalb, so Stolz, in Anspielung an die gewünschte Umfahrung: „In den Verkehrswegeplan gehört Stockach ganz vorne rein.“

Dobrindt selbst hatte nach Ansicht der Anklage einiges auf dem Kerbholz. Dabei wurde noch nicht einmal erwähnt, dass der Fluglärm-Staatsvertrag auch nach drei Jahren noch griffbereit in der Schublade des 45-Jährigen Ministers liegt. Hätte er das Papier doch bei seiner Anreise über Zürich den Schweizern zurückgeben und damit Frieden stiften können, raunte eine Stimme. Die Anklage für den Abend beschränkte sich auf den Verkehr: Er sei schuldig, wegen der unerträglichen Staus auf deutschen Autobahnen, wegen seiner hartnäckigen Weigerung, endlich Tempo 120 auf der A 81 zuzulassen und wegen der Ausländermaut. Wobei Ankläger Warndorf gegenüber dem SÜDKURIER einräumte: „Bei dem hätte ich eine 24-Stunden-Fernsehsendung gebraucht.“ Doch die ARD-Sendeanstalten hätten sich nicht einigen können.

Der Minister nutzte die Gelegenheit, schon vormittags den Stockachern Honig um den Mund zu schmieren. Der Mann aus Peißenberg, inzwischen rhetorisch deutlich trittfester, würzte seinen Auftritt beim Empfang mit gewohnter bayerischer Überheblichkeit. Auf eine Entschuldigung für die Attacken seiner bajuwarischen Vorfahren in den Jahren 1320 und 1704 gegen Stockach, das damals noch zu den Habsburgern gehörte, warteten die 200 Gäste im Bürgerhaus vergeblich. Beifall erntete der Katholik nur von den Unwissenden im Saal für seine Bemerkung: „Wenn Bayern das Paradies ist, dann ist Stockach mindestens die Vorstufe zum Paradies.“ Stockach, das Tor zur Hölle? – So viel Keckheit wollte nicht jeder hinnehmen. „Zehn Eimer Wein!“, forderte ein wacher Zuhörer wacker in den Applaus hinein.

Dobrindt bedankte sich schließlich bei seinem Bundestagskollegen Andreas Jung (CDU) dafür, dass er ihn „genötigt“ habe, herzukommen. „Vor ein paar Monaten hast du mir am Hochrhein eine volle Turnhalle zum Fluglärm präsentiert. Heute lädst Du mich vor Gericht ein!“

Keine Spur von Reue im Vorfeld der Verhandlung. „Ganz und gar unschuldig“, sei er, so der Beklagte immer wieder. Es sollte ihm aber nichts nützen. Dobrindts Verteidigungsstrategie, die er am Abend noch perfektionieren sollte, war leicht zu durchschauen und folgte dem simplen Satz: Zuckerbrot und Peitsche. Den Stockachern drohte er zunächst mit dem Hinweis auf die Baufreigaben für die B33 nach Konstanz, nicht so schnell wieder den Spaten auszupaqcken. „Es sei denn, das Narrengericht schreibt heute Geschichte mit dem ersten Freispruch eines Bayern in seiner Geschichte.“

Die bayerische Tour verfing nicht. Schon gar nicht die selbstmitleidige. Für seinen Ausspruch „alles, was einem in Bayern zur Auszeichnung gereicht, wird einem im Ausland zum Vorwurf gemacht,“ erntete der Mann aus dem Südosten nur mitleidigen, wenn auch nicht zu überhörenden Beifall.

Skepsis erntete der Verkehrsminister denn auch zunächst bei Unions-Parteifreunden. „Der Beklagte ist gefordert, alles was ihm zur Last gelegt wird zu entkräften; beim Straßenverkehr ist ihm das schon ganz gut gelungen, beim Fluglärm muss er noch stärker werden“, sagte der wahlkämpfende Guido Wolf (CDU), mit Orden behängter Stockacher Laufnarr, gegenüber dem SÜDKURIER. Vor allem Närrinnen umschwärmten den Verkehrsminister anschließend beim Narrenumzug durch die Stadt. Ein Selfie hier, eine Umarmung da. Der Mann in Karo hatte ganz klar die Herzen der Stockacherinnen gewonnen. Im Badischen Hof drückte ihm Wirt Hermann Schmeiser noch schnell zwei Bücher über ‚Die Welt der Fasnachtsnarren' in die Hand. „Eins ist für Seehofer“, so Schmeiser. Um die Runde der CDU-Politiker zu komplettieren, fand sich Ex-Minister Willi Stächele ein. Der Oberkircher hatte schon am Vormittag mit CDU-Freund Wolfgang Reuther über What's App kommuniziert: „Wir sind um 13 Uhr bei Euch.“

Von der Tradition des Stockacher Narrengerichts im 665. Jahr nach Kuony zeigte sich Dobrindt tief beeindruckt. Als die Zimmerergilde am Nachmittag den Narrenbaum vor dem Bürgerhaus Adler Post errichtete, packte der Fachmann für Digitales und Infrastruktur beherzt mit an – wohl in der Hoffnung auf ein ihm gewogenes Gericht. Nur CDU-Grande Heiner Geißler war einst fleißiger. 2013 hatte der Ex-CDU-General bei seinem Gerichtstermin in Stockach höchstselbst mit dem Vorschlaghammer einen Pflock eingerammt.

„Angst? Nein, ich bin mit großer Demut hergekommen. Angst muss der Ankläger haben,“ sagte Dobrindt vor Beginn der Verhandlung. Doch das sollte ihm danach nicht mehr so leicht über die Lippen kommen. Vor 1200 Gästen wurde er am Seil in die Jahn-Halle geführt. Dann musste er mit anhören, wie Ankläger Thomas Warndorf und sein Fürsprech Michael Nadig in eine brillante Redeschlacht eintauchten. Während Warndorf gegen den „Mautkasper“ und „Chef des Verkehrs-Stau-Mysteriums“ zu Felde zog und verlangte, dass der Narrenbüttel Dobrindt nach dem Urteil „geteert und gefedert“ zurück an die bayerische Grenze bringe, „damit er endlich weiß, wie Asphaltieren wirklich geht“, konterte Nadig mit regionalen Leistungen des Angeklagten: „Endlich gibt es in Berlin einen Verkehrsminister, der diesen Namen verdient, und der wird hier angeklagt.“

Am Ende waren es wohl die Einlassungen der Zeugin der Anklage, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die für das Urteil ausschlaggebend wurden. Die bekennende Multi-Kulti-Liberale und zweifache ehemalige Bundesjustizministerin, von vielen schon fast vergessen, reizte Dobrindt so sehr, dass er gegen alles zu Felde zog, was eine andere politische Farbe hat. In seiner 45-minütigen Rede hatte es ihm besonders sein b aden-württembergischer Amtskollege Winfried Hermann (Grüne) und dessen Tempolimit auf der A 81 angetan. „Das war für uns der Beginn einer wunderbaren Brieffreundschaft. “ Den Maut-Vorwurf der Anklage nannte er den „Gipfel der Heuchelei“. Schließlich seien die Stockacher selbst Väter der „Urmaut“ gewesen, konstruierte der Minister und rief dem Publikum zu: „Meine Maut habe ich bei Euch abgeschaut.“

Doch es half nichts. Dobrindt, der Platzhalter des legendären Wahlkreises von Bayerns Übervater Franz-Josef Strauß, schmeichelte den Narrenrichtern hartnäckig mit Bücklingen und wegen ihres ausgewiesenen Expertenwissens. Aber das Hohe Narrengericht zeigte einmal mehr seine Unbestechlichkeit. Das Urteil hätte übrigens deutlich härter ausfallen können, wenn die Richter Warndorfs abgefeuerten Wortsalven gefolgt wären, der auf 25 Eimer Wein plädierte. Narrenrichter Bosch verdonnerte den Angeklagten zu drei Eimern Wein (à 60 Liter) und zeigte damit die ganze Weisheit des Gerichts.

Video: Die Verteidigungsrede von Verkehrsminister Alexander Dobrindt

Narrengericht Stockach mit Alexander Dobrindt

 

Das Narrengericht

Das Gericht: Jedes Jahr tagt das Hohe Grobgünstige Narrengericht zu Stocken am „Schmotzigen Dunschtig“. Dabei wird seit vielen Jahren schon eine prominente Person angeklagt. In der Regel eine Politikerin oder ein Politiker von hohem Bekanntheitsgrad. Das Brauchtum geht auf das Jahr 1351 zurück, dem Datum, an dem die Stockacher das Privileg verliehen bekamen, jedes Jahr ein Narrengericht zu veranstalten. 1960 wurde es in moderner Form wiederbelebt.

Die Überlieferung: Am Vorabend der Schlacht am Morgarten (1315) gegen den Schweizer Gründerkanton Schwyz sagte Hofnarr Kuony von Stocken nach einer alten Überlieferung an die Adresse Erzherzog Leopolds I. von Österreich: „Ihr wisst wohl, wie Ihr nach Schwyz hineinkommt, aber nicht, wie raus.“ Keiner in der Runde nahm die Worte des weisen Narren damals so recht ernst. Die Folgen aber waren desaströs: Die Schlacht am Morgarten ging verloren, der Erzherzog musste selbstkritisch einräumen, er hätte auf seinen Narren hören sollen. Und so wurde Kuony ein Wunsch freigestellt. Der wollte ein Privileg für seine Heimatstadt Stockach haben: Einmal im Jahr, zwischen Lichtmess und Laetare, sollten die Bürger selbst richten dürfen. Das Privileg wurde auch gewährt. In schriftlicher Form allerdings verlieh es erst Herzog Albrecht von Habsburg im Jahr 1351.

Die Besetzung: Das Narrengericht besteht aus dem Ankläger, Narrenrichtern und dem Fürsprech. Sie wählen jedes Jahr erneut einen Beklagten aus der Landes- oder Bundespolitik. Die Strafe, meist in Form eines guten Weines, der sich nach dem österreichischen Hohlmaß von 60 Litern je Eimer bemisst, muss bis Laetare (also bis zum 4. Fastensonntag, in diesem Jahr ist es der 6. März) abgeliefert werden. Erster Beklagter der Neuzeit war Kurt Georg Kiesinger, damals Ministerpräsident von Baden-Württemberg. (sk)