Immer im Frühjahr wartet der ADAC mit schockierenden Zahlen auf: Gemeint ist die Staustatistik. 2019 – vor dem Corona-Krisenjahr 2020 – summierte sich die Länge aller Staus in Deutschland auf 1.423.000 Kilometer. Um das anschaulich zu machen, wird die Zahl durch 40.000 Kilometer geteilt – der Umfang der Erde am Äquator. Dann wird es noch gruseliger: Der Mega-Stau umspannt fünfunddreißigeinhalb Mal den Globus.
Die Aussagekraft solcher Horrormeldungen ist indes begrenzt. So spricht der ADAC bereits dann von einem Stau, wenn die Geschwindigkeit von 20 km/h auf einer Länge von einem Kilometer für mindestens fünf Minuten unterschritten wird. Stau bedeutet also nicht unbedingt Stillstand, sondern der stockende Verkehr ist mit gemeint.
Hat Deutschland vielleicht gar kein gravierendes Stau-Problem? Markus Friedrich, Professor für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik an der Universität Stuttgart und anerkannter Stau-Fachmann, stützt sich auf die nüchterne Statistik. Demnach beträgt die im Stau verbrachte Zeit bei einer Fahrleistung von 11.000 Kilometern jährlich 40 Stunden. Das entspricht sechs bis sieben Minuten pro Tag. Auf Stadtstraßen steht der Deutsche jährlich 24 Stunden still, auf der Autobahn aber nur sechs. „Im Mittel“, sagt Markus Friedrich, „haben wir kein Stauproblem“.
Dennoch spukt die Stau-Angst in unseren Köpfen. Wer sich hinters Steuer setzt, kann zwar mittels Routenplaner und Verkehrsdurchsagen auf Staumeldungen reagieren und eine andere Strecke wählen. Doch Pendler wissen: das bleibt oft ein frommer Wunsch, denn auch Ausweichstrecken fressen Zeit. Daher bleiben die meisten Fahrer auf gewohntem Kurs. Beispiel: Wer auf der Autobahn A81 zur Hauptverkehrszeit von Süden kommend Richtung Stuttgart unterwegs ist, rechnet mit dem Baustellen-Stau bei Böblingen – und hofft, dass es nicht so dicke kommt.

Zur Stoßzeit bei Allensbach
Das Gleiche erwartet die Pendler auf der Bundesstraße 33 bei Allensbach, wenn sie Richtung Konstanz fahren. Zur Stoßzeit führt die durch die Großbaustelle erzwungene Spurverengung zum Stau. Der Flaschenhals zwingt zur Schleichfahrt – oft sogar zum Stillstand. Das leidige Stopp-an-Go ist die Folge. Das kostet nicht nur Nerven, sondern durch das ständige Anfahren und Abbremsen auch mehr Kraftstoff.
Dabei würden Nerven und Geldbeutel durch intelligentes Fahren geschont. Den Stau selbst können die Verkehrsteilnehmer zwar nicht auflösen. Aber sie können mit ihm geschmeidig umgehen. Denn der Stau ist kein unentrinnbares Schicksal. „Nicht mal ein Unfall oder eine Baustelle führt zwingend zu einem Stau – denken Sie an nachts, wenn kaum Autos unterwegs sind“, sagt Markus Friedrich. „Für den Stau braucht es immer eine ganze Menge an Verkehr“, sagt der gelernte Bauingenieur.
In Stausituationen neigen Autofahrer mitunter dazu, egoistisch zu handeln und nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht zu sein. Das bremst den Verkehrsfluss noch weiter ab. Welche Typischen Fehler gemacht werden und wie man stattdessen fahren sollte:
So kommt die Logik ins Spiel. Und die Überlastung einer Straße durch ein Zuviel an Fahrzeugen. Pro Stunde und Fahrstreifen verkraftet eine Straße zwischen 1800 und 2100 Fahrzeuge. Das heißt: Etwa alle zwei Sekunden passiert ein Fahrzeug. Dann ist eine Sättigung erreicht. Jeder Wagen mehr bedeutet Stau-Gefahr.
Auf Autobahnen kommt hinzu, dass ihre Mehrspurigkeit unterschiedliche Geschwindigkeiten zulässt. Schnellere Überholer zwingen Langsamere zum Bremsen, wenn diese sich einem noch langsameren Wagen, etwa einem Lkw, nähern. Langsamere wiederum zwingen Schnellere zum Bremsen, wenn jene etwa zum Überholen nach links ausscheren. Solche Situationen können bei starkem Verkehrsaufkommen zu einem Stau aus dem Nichts kulminieren, bei dem sich hinterher jeder fragt: „Was ist eigentlich passiert?“
Stau-Experte Friedrich nimmt zum Übel der ungleichen Geschwindigkeit klar Stellung: „Am besten wäre es, wenn alle gleich schnell fahren würden“, sagt er. Er weiß, dass der Satz, den er nachschiebt, vielen nicht passt: „Tempo 100 für alle wäre eine echt coole Lösung.“ Man müsse sie nur „gut verkaufen“.
Der Reiz eines Tempolimits
Das dürfte in Deutschland schwierig sein, zumal nicht jeder Lkw dauerhaft Tempo 100 halten kann und auch die Sicherheitseinrichtungen bei Lkw nicht überall auf 100 ausgelegt sind, wie Friedrich einschränkend bemerkt. Der Experte will auch keine Forderung nach einem Tempolimit aufstellen – das im Ampel-Koalitionsvertrag von der FDP ausgebremst wurde.
Aber damit statt Vermutungen endlich valide Daten und empirisch gesicherte Erkenntnisse über Vorteile eines Limits vorliegen, hält Friedrich eine auf drei bis vier Jahre angelegte „systematische Untersuchung“ auf einer Autobahn für sinnvoll. Er wagt die Prognose: „Der Verkehrsfluss wird besser.“
Und Staus durch Unfälle wohl seltener. Was wiederum Zeit sparen und die vergeudeten sechs Stau-Stunden mindern könnte. „Man kommt bei einem Tempolimit zwar etwas später an sein Ziel“, gesteht Markus Friedrich ein. Im Mittel wären das etwa vier Stunden pro Jahr oder weniger als eine Minute pro Tag. „Dafür wird aber eine ganze Menge an Sprit eingespart, und der Stau aus dem Nichts verschwindet“, sagt der Verkehrsprofessor.