Herr Schickedanz, trügt der Eindruck, dass Gewitter heute deutlich heftiger sind als noch vor wenigen Jahren?
Gewitterlagen in dieser Heftigkeit sind immer noch ein relativ seltenes Ereignis. Aber auch ich habe den Eindruck, dass sie in dieser Heftigkeit häufiger geworden sind. Sie sind aber noch nicht so häufig, dass wir statistisch sagen könnten, es ist mehr geworden. Anders ist es beispielsweise bei der Schneehöhe im Schwarzwald. Da können wir sagen, die Schneehöhe ist zurückgegangen in den vergangenen Jahrzehnten. Es passt aber in das Bild, das Klimaforscher zeichnen, mit der sommerlichen Abwechslung zwischen Dürre und Starkregen-Ereignissen.

Wie kam das starke Gewitter in der Nacht zum 29. Juni zustande?
Über der Atlantikküste, von der Biscaya hoch bis zur Bretagne, ist das Tiefdruckgebiet entstanden. Was es auszeichnet: Es ist in allen Höhen sehr ausgeprägt. Tiefdruckgebiete wie diese sind sehr wetteraktiv mit sehr viel Hebungen. Und wenn Luftmassen gehoben werden, bedeutet das, dass sie in geringeren Luftdruck kommen, sie kühlen sich ab und können dann das gasförmige Wasser nicht mehr halten. Dann bilden sich Tropfen, Eiskristalle, Hagelkörner. Deswegen hat man in Tiefdruckgebieten diese Wolkenbildung. Und auf der Vorderseite des Tiefdruckgebietes im Südwesten wurde nicht nur feuchte, sondern auch noch sehr warme Luft angesaugt. Diese zwei Zutaten – Wärme und Feuchte – sind die Rezeptur für schwerste Gewitter. Deswegen sind Gewitter in Süddeutschland auch sehr viel heftiger als in Norddeutschland.
Man spricht von sogenannten Superzellen. Was macht so eine Superzelle aus – ist das ein neues Phänomen?
Das ist kein neues Phänomen. Diese Superzellen entstehen aus Einzelzellen, die verschmelzen. Einzelzellen bilden Tochterzellen, wenn mehr Feuchte da ist. Dann bildet sich ein Mehrzellensystem. Da stehen auf relativ engem Raum drei, vier, fünf solcher Gewittertürme nebeneinander. Wenn das Feuchteangebot sehr groß ist, verschmelzen diese vier oder fünf Multizellen zu einer Superzelle. Die hat dann eine Riesenausdehnung und natürlich ganz andere Energien.

Ist unsere Mittelgebirgslandschaft hier prädestiniert für die Bildung solcher Superzellen?
Nicht für die Bildung von Superzellen, aber die Gewitterhäufigkeit ist in einer Gebirgslandschaft höher als in der Ebene. Das liegt einfach daran, dass es im Gebirge auf gleicher Höhe wärmer ist als in der freien Atmosphäre. Im Sommer wird nämlich die Wärme durch Umsetzung der Sonneneinstrahlung am Erdboden erzeugt. Das heißt, wir haben hier höhere Temperaturen. In 1000 Meter Höhe im Schwarzwald oder auf der Schwäbischen Alb haben wir höhere Temperaturen als 800 Meter über dem Oberrheingraben. Gewitter leben von Hitze unten und Kälte oben, weil die Temperaturunterschiede sehr groß sind. Deswegen sind die Gewitter über Mittelgebirgen noch größer wie über dem Flachland. Insofern erhöht unsere Landschaftsform die Gewitterhäufigkeit.
Können Sie etwas zu den Naturkräften sagen, die aus so einer Superzelle hervorgehen?
Ja, die sind extrem groß. Bei den Tiefdruckgebieten ist die Energie vergleichbar mit der Energieabgabe von Kraftwerken über Wochen hinweg. Man könnte mit der Energie so einer Superzelle viele Haushalte über viele Tage versorgen. Die größten Energiemengen stecken aber tatsächlich nicht in den Superzellen, sondern weniger spektakulär in normalen Tiefdruckgebieten, die im Winter vom Atlantik herüberkommen.

Ist der Klimawandel eine Ursache für die geballte Form der Gewittertätigkeit?
Das würde ich wegen den physikalischen Zusammenhängen mit einem eindeutigen Ja beantworten. Die Gewitter über Köln sind ja potenziell heftiger als die über Hamburg und die über Stuttgart sind heftiger als die über Köln. Und die über Mailand heftiger als die über Stuttgart. Das heißt: Je mehr Wärme ich habe, umso heftigere Gewitter habe ich. Mehr Wärme entsteht auch durch die Erwärmung des Klimas. Solange die Feuchte potenziell bei uns ist, nimmt die Gefahr extrem heftiger Gewitter mit steigenden Temperaturen laufend zu. Wir haben natürlich die letzten drei trockenen Jahre trotz Klimawandels gewitterarme Zeiten gehabt. Und dann kann die Feuchte reinkommen und die Gewitterneigung steigt mit den entsprechenden Folgen.

Man fühlt sich in mancher Situation, als sei es Weltuntergang, wenn sich die Wolke grünlich färbt. Was bedeutet das aus der Sicht des Meteorologen?
Das sind sehr eindrückliche Bilder. Das zeigt einfach die Physik des Gewittergeschehens. Wenn wir einen Landregen haben, dann wird die Luft in einem großen Tiefdruckgebiet auf großer Fläche gehoben. Die Luft kühlt sich dann ab, weil sie in geringeren Luftdruck kommt, kann das Wasser nicht mehr gasförmig halten, es bilden sich Tröpfchen, Eisteile, und es regnet großflächig. Bei Gewittern habe ich diese Hebung punktuell in einer Gewitterzelle sehr viel heftiger als bei einem großräumigen Tiefdruckgebiet. Aber gleichzeitig strömt Luft von oben nach. Die Luftmassen reiben sich dann aneinander, es blitzt bei der Entladung. Solche Wolken sind geradezu typisch für Gewitterzellen.
Kann man daraus ableiten, dass es hageln wird?
Nein, man hat manchmal aber Wolken, die stark mit Eisteilen angereichert sind. Das ist eine ganz spezielle Lichtbrechung, und manche Menschen meinen, daraus heraufziehenden Hagel ableiten zu können. Ich selber trau mir das auch nicht zu. Natürlich entsteht Hagel immer bei sehr kräftigen Aufwinden, die dazu führen, dass die Tröpfchen immer wieder nach oben geschleudert werden und sich dann anreichern und gefrieren, bis sie zu Boden fallen.
Ist die Vorhersage aus Sicht des DWD schwieriger geworden?
Durch häufigere heftigere Gewitter werden die Herausforderungen für den Deutschen Wetterdienst potenziell größer.