Angela Stoll

Herr Professor Scherer, erleben wir gerade eine ungewöhnlich starke Erkältungswelle?

Ja, die Infektzahlen und die Geschwindigkeit des Anstiegs sind höher als in den Jahren zuvor. Auch die Erkrankungsschwere scheint stärker zu sein. Es gibt im Moment zahlreiche Menschen, die etwas schwerer erkrankt sind, als man es früher von Erkältungen kannte. Das ist ein Phänomen, das gerade zu beobachten ist.

Zwei Jahre lang waren wir in Folge der Corona-Maßnahmen stark abgeschottet. Sind wir daher jetzt besonders anfällig für Atemwegsinfekte?

Das ist auf jeden Fall eine Hypothese, die gerechtfertigt ist. Viren mutieren ständig, daher brauchen wir auch eine ständige Exposition des Immunsystems. Es ist ja nicht nur das Coronavirus, das sich kontinuierlich verändert. Es gibt noch 200 andere Viren, die Atemwegsinfekte verursachen. Auch diese verändern sich laufend. Deshalb braucht das Immunsystem kontinuierliche Updates.

Kontaktbeschränkungen und das Maskentragen haben in den vergangenen zwei Jahren dazu beigetragen, die Corona-Zahlen zu reduzieren. Der Nebeneffekt war aber, dass wir anderen Viren gegenüber weniger exponiert waren und deshalb das Immunsystem weniger Training hatte.

Einfach lästig, so eine Erkältung. Oft hilft es da nur, sich auszuruhen.
Einfach lästig, so eine Erkältung. Oft hilft es da nur, sich auszuruhen. | Bild: ERGO Reiseversicherung

Wir haben also sozusagen die Updates verpasst?

Das kann man so sagen. Es ist eigentlich nötig, sich regelmäßig zu infizieren – so komisch das klingt. Das Immunsystem profitiert von dem Kontakt mit Viren.

Also kann ich im Grunde ganz froh sein, wenn ich mal wieder einen Schnupfen habe?

Na ja, wer ist darüber schon froh? Ich denke aber tatsächlich, dass es wichtig ist, sich von Zeit zu Zeit zu infizieren. Man muss dabei ja nicht zwangsläufig krank werden.

Allgemeinmediziner Martin Scherer.
Allgemeinmediziner Martin Scherer. | Bild: DEGAM / Tabea Marten

Es ist also wichtig, sich Erregern auszusetzen. Würden Sie gesunden Erwachsenen dann davon abraten, Maske zu tragen?

Wie der amerikanische Virologe Anthony Fauci sagt: „Everybody takes his own risk.“ Also: Jeder hat sein eigenes Sicherheitsempfinden. Ich finde es sehr gut und sinnvoll, dass wir auch jetzt noch die Maske als zusätzliche Option haben. Ich habe immer eine in der Tasche. Wenn ich allein in einem Raum bin, dann brauche ich die Maske nicht aufzusetzen. Wenn es dagegen eng wird und jemand in der Nähe ist, der offensichtlich erkrankt ist, dann setze ich sie auf. Das muss man immer situationsabhängig machen.

Aber vielleicht möchte ich mich gerade abhärten.

Das ist gar nicht nötig. Ich würde nie in die direkte Exposition gehen, ganz nach dem Motto: „Ich lasse mich jetzt mal anhusten, das ist gut für mein Immunsystem.“ Sie werden trotzdem immer noch ein Infektionsgrundrauschen haben. Nur bei den scharfen Kontaktbeschränkungen, die wir zwei Jahre lang hatten, war das Immunsystem tendenziell unterbeschäftigt.

Welche Erreger sind derzeit gehäuft unterwegs?

Es gibt die Adeno- und Rhinoviren, die sehr prominent sind. Influenza und Covid gehören ebenfalls zur aktuellen Mischung von Infektionen. Genau wissen wir es aber nicht, weil wir die 200 verschiedenen Viren, die Atemwegsinfekte auslösen können, nicht systematisch untersuchen.

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Was ist Ihre Prognose für die kommenden Monate: Rechnen Sie mit einer weiteren Zunahme an Atemwegserkrankungen?

Ich denke, wir müssen uns auf einen anstrengenden Winter einstellen. Auch die Winter vor Covid waren eine Herausforderung. Jetzt ist die Lage aber noch etwas schwieriger, weil das Coronavirus als zusätzlicher Erreger dabei ist und das Immunsystem zwei Jahre lang wenig Training hatte. Wie der Verlauf sein wird, lässt sich nicht genau vorhersagen. Das kommt auch darauf an, wie die vielen verschiedenen Erreger mutiert sind.

Können sich Grippe-, Corona- und andere Viren auf einmal ausbreiten? Oder hemmen sie sich gegenseitig?

Man kann sich nicht darauf verlassen, dass sich die Erreger gegenseitig hemmen. Wir wissen zwar, dass Viren die Bildung von Interferonen auslösen können, die antivirale Eigenschaften haben. Die Stärke dieser Interferon-Produktion variiert aber stark in Abhängigkeit vom Virus- und Zellsystem. Daher verwundert es nicht, dass es Doppelinfektionen geben kann. So gab es zum Beispiel Patienten, die Corona und Influenza gleichzeitig bekommen haben.

Eine Frau wärmt sich, in eine Decke gehüllt, an einer Tasse Tee.
Eine Frau wärmt sich, in eine Decke gehüllt, an einer Tasse Tee. | Bild: Ole Spata/dpa

Landläufig spricht man oft von Grippe, auch wenn es sich um eine schwere Erkältung handelt. Was spricht dafür, dass es sich wirklich um Influenza handelt?

Es ist nicht einfach, das voneinander zu unterscheiden. Die Patientinnen und Patienten frage ich immer: Fühlen Sie sich wie vom Zug überfahren? Bei der Grippe fühlt man sich sehr abgeschlagen. Außerdem treten die Symptome stark geballt auf. Es geht schlagartig los mit Hals-, Kopf- und Gliederschmerzen, Fieber, trockenem Husten, eventuell noch Schnupfen.

Bei der Erkältung ist das Ganze eher gestaffelt, sie beginnt vielleicht mit Halsschmerzen und Schnupfen, dann kommt Fieber, später Husten hinzu. Aber das sind alles relativ weiche Unterscheidungskriterien. Man muss auch bedenken: Wenn wir von Erkältung sprechen, reden wir von 200 unterschiedlichen Erregern.

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Ist für Laien überhaupt wichtig zu wissen, was sie sich da genau eingehandelt haben? Die Maßnahmen sind ja die gleichen.

Ja, das ist der entscheidende Punkt: Eine genaue Diagnose brauchen wir nur dann, wenn sich daraus ein abweichendes Vorgehen ergeben würde. Da wir aber für die unkomplizierten Virusinfekte keine spezifische Therapie anbieten können und es zur Behandlung eines Atemwegsinfekts auch keinen Goldstandard gibt, ist die genaue Diagnose für den Laien unerheblich.

Ausnahmen sind Menschen mit hohem Komplikationsrisiko, bei denen wir für Covid und Grippe zugelassene Medikamente für den frühzeitigen Einsatz zur Verfügung haben.

Wie kann man das Immunsystem stärken?

Das Beste ist, es nicht zu schwächen. Wenn man keine besondere Erkrankung hat, keine Knochenmarks-Transplantation, Chemotherapie oder schwere immunologische Störung, kann man davon ausgehen, ein starkes Immunsystem zu haben. Wenn man ausreichend schläft, an die frische Luft geht, sich ausgewogen ernährt und keinen übermäßigen Stress hat, dann wird es nicht geschwächt.

Dagegen führt gerade Schlafentzug zu einer erhöhten Infektneigung. Je stärker der Schlafentzug ist, desto größer sind die Einbrüche im Immunsystem.

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