Ein Regentag im trockenen Sommer von Zentralanatolien hat Forschern in den Ruinen von Hattuscha, der uralten Hauptstadt des antiken Volks der Hethiter, einen Sensationsfund beschert. Vom Wetter zu einer Pause bei ihrer Grabung gezwungen, stießen sie in einem Tunnel auf Graffiti aus dem zweiten Jahrtausend vor Christus.
Hunderte Sprüche in hethitischer Hieroglyphenschrift fanden die Archäologen, vor 3500 Jahren mit Wurzelfarben an die Wände gepinselt. „Das ist die totale Sensation“, sagte Grabungsleiter Professor Andreas Schachner vom Deutschen Archäologischen Institut (DAI) in Istanbul.
„Völlig neue Perspektive“
Die Graffiti eröffnen eine „völlig neue Perspektive“ auf das faszinierende Großreich der Hethiter, zeigen sie doch, dass – anders als bisher angenommen – viele Hethiter lesen und schreiben konnten und Schrift zu ihrem Alltag gehörte.
Das Großreich der Hethiter war im zweiten Jahrtausend vor Christus als Gegenspieler der Ägypter, Babylonier und Assyrer eine der vier Großmächte dieser Epoche. Die Macht der Hethiter erstreckte sich von den Dardanellen in der heutigen Nordwest-Türkei über ganz Anatolien bis ins heutige Syrien.
Das Vermächtnis der Hethiter

Seit 1906 graben deutsche Archäologen in Hattuscha, rund 100 Kilometer östlich der türkischen Hauptstadt Ankara. Seit 17 Jahren leitet Andreas Schachner die Grabung eines internationalen Wissenschaftlerteams dort. Die plötzliche Entdeckung der Schriftzeichen habe alle verblüfft, sagt der Altertumsforscher – zumal sie gar nicht danach gesucht und an jenem Tag nicht einmal gegraben hätten.
„Wie ein Zufall halt ist“, sagt Schachner. „Es war ein Regentag im August, da hat es geregnet in Strömen, und wir konnten nicht graben.“ Bülent Genc, ein türkischer Kollege von Schachner, wollte die Zwangspause nutzen, um Fotos für seine Studenten zu machen. Genc fotografierte in einem 70 Meter langen steinüberwölbten Tunnel unter einem Stadttor von Hattuscha, der seit Langem bekannt ist.

Alle Forscher seien „schon hundertmal“ durch den Gang gelaufen, ohne etwas zu bemerken, sagt Schachner. Weil von beiden Enden her genug Licht in den Gang fällt, gibt es keine Lampen in dem Tunnel, Wände und Decke liegen größtenteils im Dunkeln. Erst das Licht von Gencs Mobiltelefon änderte das: Plötzlich sah er Hieroglyphen in roter Farbe an den Wänden.
Schachner war zuerst skeptisch. „Ich habe mir gedacht, na ja, das werden halt irgendwie so Schmierereien von unseren Dorfleuten hier sein oder von irgendwelchen Touristen oder so.“ Doch als Genc seine Fotos zeigte, erkannte Schachner sofort hethitische Hieroglyphen-Zeichen. „Damit kam das Ganze dann ins Rollen“, so Schachner.

Systematisch und mit allen technischen Mitteln suchte das Forscherteam das Monumental-Bauwerk ab: einen 40 Meter hohen Wall auf dem höchsten Punkt der Stadt, der von dem Tunnel unterquert und von einem Stadttor mit einst vier Sphinx-Figuren gekrönt wird – eine davon stand fast 100 Jahre lang im Pergamon-Museum in Berlin, bis Deutschland sie vor zehn Jahren an die Türkei zurückgab.
Die Suche lohnte sich: Die Forscher fanden fast 250 Zeichen, die vor rund dreieinhalb Jahrtausenden auf die Steinblöcke gemalt wurden. Der Tunnel schützt sie vor Licht und Feuchtigkeit, sodass sie auch nach Jahrtausenden noch gut erkennbar sind. „Das ist schon sehr erstaunlich alles“, sagt Schachner.
Neues Fenster zur Spätbronzezeit
Nicht minder erstaunlich ist die wissenschaftliche Tragweite dieser Zufallsentdeckung. Durch die Funde eröffne sich „ein neues, völlig unerwartetes Fenster zur Spätbronzezeit“, erklärt das DAI. Bisher bestanden die schriftlichen Überlieferungen aus dem Hethiter-Reich überwiegend aus amtlichen Texten, die mit Keilschrift auf Tontafeln geschrieben wurden.
Neben der Keilschrift entwickelten die Hethiter auch eine eigene Hieroglyphenschrift. Doch diese kannte man bisher nur von Siegeln und einigen Inschriften auf Monumenten, sagt Schachner. Bis zum Zufallsfund im Tunnel nahm die Wissenschaft deshalb an, dass die Hieroglyphenschrift der Hethiter nur selten verwendet wurde. Offensichtlich sei aber genau das Gegenteil der Fall, sagt Schachner.

„Es ist etwas, was im Alltag an ganz verschiedenen Stellen und in ganz verschiedenen Zusammenhängen angewendet wurde, wahrscheinlich häufiger angewendet wurde als die Keilschrift und wahrscheinlich auch von viel mehr Leuten verstanden wurde.“ Von Graffiti würde man heutzutage sprechen, sagt Schachner, auch wenn die Forscher noch nicht genau wissen, was da an den Wänden steht.
Namen von bestimmten Menschen oder auch Göttern könnten es sein, vermuten die Archäologen. Eine Zeichengruppe scheint aus den Zeichen für Berg und Weg zusammengesetzt zu sein: möglicherweise eine Art Straßenschild. Anders als bisher gedacht, konnten viele Hethiter also offenbar lesen und schreiben – nur eben nicht die amtliche Keilschrift, sondern die offensichtlich populären Hieroglyphen.
Die Verwendung der Hieroglyphenschrift im öffentlichen Raum werfe ein neues Licht auf die Gesellschaft der Hethiter, sagt Schachner. „Das ist eine völlig neue Perspektive, so viele plötzlich zu finden, die zeigen, dass das offensichtlich die Art und Weise war, wie die Leute untereinander kommuniziert haben.“ Damit gewinne die Forschung „einen völlig neuen Blick auf diese Kultur“.
Im nächsten Schritt will das Grabungsteam die Hieroglyphen auf ihren Steinblöcken nun dreidimensional aufnehmen und modellieren. Von der Auswertung der Schriftzeichen erhofft sich Schachner neue Aufschlüsse darüber, wie die Menschen in Hattuscha damals lebten und dachten.