Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine verändert die politische Architektur Europas und stärkt das westliche Verteidigungsbündnis. Finnland, vom sowjetischen Diktator Josef Stalin nach dem Zweiten Weltkrieg zur Neutralität gezwungen, ist der Nato zwar freundschaftlich verbunden, war bisher aber kein Mitglied.
„Wir können in dieser Situation gar nicht anders“
Dass man das in Helsinki nun ändern will, hat vor allem mit der historischen Erfahrung mit Russland zu tun. Im kollektiven Gedächtnis der Finnen nimmt der Winterkrieg, den Stalin Ende November 1939 begann, eine besondere Stellung ein.
„Natürlich denken wir bei dem, was heute in der Ukraine geschieht, an unseren Winterkrieg. Wir können in dieser Situation gar nicht anders“, sagte Pekka Lepistö, Geschichtslehrer und Rektor einer Schule in Helsinki, kürzlich zur „Neuen Zürcher Zeitung“.
Erstaunliche Parallelen zum jetzigen Krieg
Die Parallelen des damaligen Überfalls der Roten Armee auf Finnland zur russischen Invasion in die Ukraine sind erstaunlich zahlreich. Sie entspringen einerseits einer totalen Fehleinschätzung des Gegners, den Stalin wie Wladimir Putin glaubten schnell unterwerfen zu können, als auch einer geschlossenen Abwehrbereitschaft der angegriffenen Seite.
Zunächst: Der Kreml-Herrscher Putin erweist sich bei der Begründung des Angriffs auf die Ukraine als treuer Schüler Josef Stalins. Auch dieser begründete den ohne offizielle Kriegserklärung eröffneten Überfall neben Gebietsforderungen mit „Sicherheitsinteressen“ und verharmloste die Invasion als „Spezialoperation“.
Personell und technisch gerüstet hatte er indes zu einem schwungvollen Blitzkrieg, der an Putins gescheiterten Versuch erinnert, Kiew in einem konzentrierten Vorstoß in wenigen Tagen einzunehmen. 1939 sollte Helsinki nach einem sowjetischen Durchbruch durch die karelische Landenge fallen.

Dazu hatten die Generäle nördlich von Leningrad 200.000 Mann zusammengezogen und 1500 Panzer aufgefahren. Nördlich des Ladoga-Sees sollten weitere 130.000 Mann mit 400 Panzern nach Westen vorrücken, um den Finnen in den Rücken zu fallen.
Flotte auf dem Ladogasee
Auch die sowjetische Luftwaffe und ein Flottenverband auf dem Ladoga-See waren in die Planungen eingebunden. Der schnelle Sieg gegen einen materiell unterlegenen Gegner – wie es auch die Ukraine im Februar gewesen ist – war für Stalin eine ausgemachte Sache.
Auch seine politische Flankierung erinnert an Putins Vorhaben: Stalin wollte, gestützt auf finnische Bolschewiken, in Helsinki eine Marionettenregierung installieren, um Finnland an der Seite der UdSSR zum Satellitenstaat zu degradieren.
Der erwartete Jubel der Finnen blieb aus
So wie Putin meinte, die Ukrainer würden die Russen mit Brot und Salz begrüßen, glaubte Stalin, die Finnen würden die Befreiung vom „unterdrückerischen Kapitalismus“ mehrheitlich bejubeln und dem Feind widerstandslos ihre Tore öffnen.
Wie im Februar die Truppen Putins, so war die Rote Armee zwar zahlreich, aber auf einen Angriff mit heftiger Gegenwehr nicht vorbereitet – schon gar nicht im Winter bei Schnee, Eis und Minusgraden. Nur im Schneckentempo kamen die Angreifer voran. Für die 50 bis 60 Kilometer zwischen Grenze und der Verteidigungsanlage, die später nach dem finnischen General „Mannerheimlinie“ genannt wurde, brauchte man eine ganze Woche. Dann standen Stalins Soldaten vor einem System aus Schützengräben, Stacheldraht, Panzersperren und teils verbunkerten Unterständen mit MG-Stellungen.

Ähnlich wie im Ukraine-Krieg konnten sich die mechanisierten Truppen nicht im Gelände entfalten. Der Schnee zwang die Panzer auf die wenigen Straßen, die passierbar waren und schränke die Beweglichkeit ein. An einen Durchbruch war nicht zu denken, die Finnen verteidigten zäh, waren aber nicht zu einer Gegenoffensive in der Lage.
Große taktische Erfolge brachte ihnen die Vertrautheit mit Schnee und Skiern: Infanterie auf Brettern griff die Russen blitzschnell an und zwang sie in die Defensive. Nur im Norden, in Lappland, kamen die Rote Armee voran, da den Finnen dort Truppen fehlten. Strategische Erfolge waren den Angreifern aber verwehrt, weil Divisionen eingeschlossen und zerschlagen wurden.
Blick auf die Geschichte Finnlands
Im Gegensatz zur Ukraine erhielten die Finnen von außen kaum Hilfe. Die Lage in Europa war eine andere. Nach dem Abschluss des Hitler-Stalin-Pakts im August 1939 hatte die Wehrmacht Polen überfallen, die UdSSR holte sich den östlichen Landesteil. Frankreich und Großbritannien standen im Krieg gegen Nazi-Deutschland.
Schweden schickte Waffen und Ausrüstung
So ging der finnische Plan, die Eindringlinge aufzuhalten, bis internationale Hilfe käme, nicht auf. Immerhin schickte Schweden Waffen und Ausrüstung wie auch 8000 Freiwillige – zu denen später Norweger, Dänen und Amerikaner stießen. Aus Frankreich und England kamen einige teils veraltete Jagdflugzeuge.
Wiederum ähnlich wie in der Ukraine, wo der Graben zwischen Russisch und Ukrainisch Sprechenden im Donbass-Konflikt eingeebnet wurde, bewirkte der Angriffskrieg von 1939/40, dass sich die Reihen der Überfallenen schlossen.
Deutsches Militär als Geburtshelfer der Unabhängigkeit
„Der Geist des Winterkriegs“ überwand die links-rechts Gegensätze, unter denen Finnland seit dem Bürgerkrieg 1918 gelitten hatte. Damals standen sich bürgerliche Kräfte unter dem Militär Carl Gustav Mannerheim und moskautreue Bolschewisten gegenüber. Deutsches Militär hatte eingegriffen und – wie in der Ukraine 1917/18 – die Unabhängigkeit des Landes von Russland bewahrt.
Der Roten Armee gelang erst im Februar 1940 nach Umgruppierungen und Neubewaffnung eine Offensive mit der Überwindung der Mannerheimlinie und der Einkesselung von Wyborg (Viipuri). Luftangriffe, finnische Quellen sprechen von mehr als 2000 Bombardements, forderten auch unter Zivilisten viele Opfer. Ähnlich wie im ukrainischen Mariupol verteidigten die Finnen Wyborg zäh und leisteten bis zum Abschluss eines Friedens am 13. März 1940 Widerstand.
Fahnen sanken auf Halbmast
Die finnische Regierung unter Risto Ryti bewahrte zwar die Unabhängigkeit des Landes, doch musste sie sich schmerzhaften Gebietsabtretungen – darunter ganz Ostkarelien und die Landenge – beugen. In Helsinki sanken die Fahnen auf Halbmast. Aber auch die UdSSR zahlte einen hohen Preis. So sagte ein Sowjet-Offizier später: „Die Überlebenden pflegten scherzhaft zu sagen, dass das Land, das wir den Finnen nahmen, gerade ausreichte, um unsere gefallenen Offiziere und Soldaten zu begraben.“
Russische Quellen nennen heute die Zahl von 127.000 Toten und Vermissten, finnische bis zu 270.000. Auf finnischer Seite zählen Historiker heute mehr als 26.000 Gefallene des Winterkriegs. 900 Zivilisten fielen den russischen Bomben zum Opfer.