Die Zahl der Organspender in Deutschland ist im vergangenen Jahr auf 769 gesunken. Ein historischer Tiefstand. Schon 2016 war die Zahl der Spender so niedrig wie nie zuvor. Dann sank sie 2017 nochmals um acht Prozent. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will nun dieses Problem lösen und hat eine Debatte angestoßen: Er will jeden zum Organspender machen, der nicht ausdrücklich Widerspruch dagegen eingelegt hat. Sein Argument: „Das Nein aussprechen zu müssen, ist angesichts der bedrückenden Lage auch in einer freien Gesellschaft zumutbar.“ Tatsache ist freilich, dass viele Menschen schlichtweg keine klare Meinung zur Organspende haben, weil sie zu wenig darüber wissen.
Es lohnt sich daher ein Blick auf das, was eigentlich passiert, wenn einem Menschen ein Organ entnommen wird. Die Aktion beginnt mit der Feststellung des Hirntods. Das heißt laut Gesetz, dass die Hirnfunktionen komplett erloschen sind. Aber die Feststellung des Hirntods ist nicht einfach. Eigentlich sei er, wie Nils Birbaumer, Neurowissenschaftler an der Universität Tübingen, betont, erst dann zweifelsfrei diagnostiziert, wenn sich bei einem EEG (Elektroenzephalogramm, das die elektrische Aktivität des Gehirns aufzeichnet) keinerlei Schwingungen und niederfrequente Spannungsverschiebungen mehr zeigen würden. Und das vier bis acht Wochen lang.
Vielmehr verlangen die Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes bislang nur, dass die dazu bestellten Ärzte „eine mehrjährige Erfahrung in der Intensivbehandlung von Patienten mit schweren Hirnschädigungen“ hätten. Einen Hirntoten selbst müssen die Mediziner jedoch noch nie gesehen haben. Sie brauchen noch nicht einmal bei einer solchen Diagnose dabei gewesen sein. Birbaumer fordert daher, die Richtlinien schleunigst nachzubessern.
Ein Hirntod bedeutet, dass grundlegende Körperkontrollfunktionen nicht mehr funktionieren, und deswegen muss man beim Spenderpatienten intensivmedizinische Maßnahmen ergreifen, um seine Organe am Leben zu halten. Neben der Beatmung gehört dazu die Stabilisierung auf mindestens 35 Grad Körpertemperatur. Dafür empfiehlt die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) den Einsatz von Heizlüftern, Metallfolien und Wärmedecken. Außerdem müssen die Atemwege gereinigt werden. Zudem rät die DSO zu Kortikoiden, weil das tote Hirn anschwillt und dabei entzündungsfördernde Stoffe in den Kreislauf abgibt.
Während der Körper des Patienten am Leben gehalten wird, erfolgt eine sogenannte „Organ- und Spendercharakterisierung“. Dabei wird unter anderem – auch im Gespräch mit den Angehörigen – erfasst, ob der potenzielle Spender krank war und in jüngerer Zeit geimpft wurde oder unter schweren Infekten litt. Gefragt wird auch, ob er der Prostitution nachging oder anderen gesundheitlich riskanten Tätigkeiten nachging.
Wenn all das geklärt ist, kommt es schließlich zur Organentnahme. Dazu wird der Patient mit abgespreizten Armen auf den Rücken gelegt und von den Schlüsselbeinen über das Brustbein bis zum Bauchraum aufgeschnitten. Und das in der Regel ohne Narkose, insofern ein hirntoter Patient keine Schmerzen mehr spürt. Nichtsdestoweniger kann es noch zum „Lazarus-Phänomen“ kommen: Die Muskel des Patienten zucken, und sein Blutdruck und Puls schießen in die Höhe. Das ist keine vom Hirn gesteuerte Aktion, sondern es sind Rückenmarksreflexe. Trotzdem meinen einige Anästhesisten, wie Günter Kirste von der DSO berichtet, „bei der Organentnahme ein Schmerzmittel geben zu müssen“. Medizinisch nötig sei dies aber nicht.
Kurz vor ihrer Entnahme werden die Organe mit einer kalten Konservierungslösung geflutet, und das ist dann auch der Moment, an dem üblicherweise die Arbeit der Anästhesisten endet und die Überwachungsmonitore abgeschaltet werden, damit sie keine störenden Alarmsignale mehr aussenden können. Denn nun steht das Herz des Patienten still, und sein Kreislauf kommt zum Erliegen. Das erleichtert zwar die eigentliche Operation, aber für das OP-Team kann es dennoch eine psychische Belastung sein. Denn der Patient stirbt nun endgültig.
Studien der letzten Jahre zeigen, dass gerade das Pflege- und Arztpersonal vom Verfahren einer Organspende – von der Pflege des Hirntoten bis zum operativen Eingriff – überfordert ist. Es fühlt sich zu wenig über die konkreten Prozesse im Körper informiert, ist emotional gestresst und würde der Entnahme am liebsten aus dem Weg gehen. Bedenklich: An dieser Vermeidungshaltung ändert sich auch im Lauf der Berufsjahre nichts. „Offensichtlich gibt es also für den speziellen Bereich Hirntod und Organspende keinen Routineeffekt“, sagt Anästhesiologe Thomas Bein vom Universitätsklinikum Regensburg. Das wirft die Frage auf, wie sich die Zahl der Spenderorgane erhöhen lässt, wenn selbst die, deren Hände man dafür benötigt, sich nicht gut genug gerüstet fühlen.