Gehen dem Südwesten bald die Ingenieure aus? Nachdem es ums Thema Ingenieurmangel einige Zeit ruhig gewesen ist, kocht in Folge der Corona-Krise die Debatte um Ausbildungslücken bei technischen Berufen wieder hoch. Insbesondere die Hochschulen im Land schlagen Alarm, denn ein Frühindikator für künftige Fachkräfte-Engpässe dreht seit Monaten auf rot.
Uni Stuttgart mit nur noch der Hälfte an Maschinenbau-Erstis
An nahezu allen Hochschulen in Baden-Württemberg sinke die Zahl der Bewerber für Ingenieurstudiengänge, sagt etwa Sabine Rein, Präsidentin der Hochschule Konstanz für Technik, Wirtschaft und Gestaltung (HTWG). Fächer wie Maschinenbau oder Verfahrens- und Elektrotechnik litten unter teils „drastischen Rückgängen“ beim Nachwuchs.
In Stuttgart, einer der renommiertesten deutschen Ingenieurs-Unis, schockte Rektor Wolfram Ressel jüngst mit der Aussage, die Zahl der Erstsemester habe sich in einigen Maschinenbau-Studiengängen seit dem Wintersemester 2019/20 „annähernd halbiert“. Fürs kommende Wintersemester liegen der Uni noch keine Zahlen vor.

Brandbrief von Hochschul-Rektoren
Insbesondere die Studien-Bewerberzahlen sind entscheidend, weil aus ihnen Rückschlüsse auf den künftigen Nachschub von Experten für den Arbeitsmarkt geschlossen werden können. In einem offenen Brief vom April diesen Jahres warnen mehrere Verbände, Arbeitgeberorganisationen und Hochschulen, dass einem zunehmenden Fachkräftebedarf bei Ingenieuren „bald ein reduziertes Angebot“ gegenüberstehen werde.

Schüler in der Corona-Falle
Schulschließungen während der Corona-Phase hätten insbesondere auf die Kompetenzen der Schüler im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich negative Auswirkungen gehabt. Außerdem sei der Zustrom ausländischer Ingenieursanwärter ins Stocken geraten. Als Folge rauschen die Anmeldezahlen für Ingenieurs-Erstsemester an den deutschen Hochschulen in den Keller. Im am stärksten betroffenen Bereich Maschinenbau und Verfahrenstechnik sind sie bereits zwischen 2011 und 2021 nach Destatis-Daten von gut 45.000 auf knapp 23.000 gesunken.
Maschinenbau-Studium weniger gefragt
Burkhard Lege, Dekan der Fakultät für Maschinenbau an der HTWG spricht von einem „deutlichen Schwund“ der Ingenieursaspiranten. Über alle Ingenieurstudiengänge hinweg seien die Bewerberzahlen in den vergangenen drei Jahren an der HTWG um knapp ein Fünftel zurückgegangen.

Klar ist, dass Fächer wie der Maschinen- oder Fahrzeugbau, die einst als schillernder Ausweis deutscher Ingenieurskunst galten, an Glanz verloren haben. Die Dieselkrise sowie die folgende abrupte Transformation der Autobauer hin zu neuen Antrieben und Digitalisierung schafft Verunsicherung. Medienberichten zufolge könnten allein in der Region Stuttgart in den kommenden Jahren 10.000 Ingenieurstellen wegfallen.
Ingenieurs-Ausbildung ist nicht angestaubt
Solche Nachrichten spiegelten die wirkliche Lage nicht wider, meint HTWG-Präsidentin Rein. „Bei den Jugendlichen ist angekommen, dass man nur noch Informatiker und Softwareexperten braucht“, sagt sie. „Aber das ist falsch!“ Aus den Unternehmen höre man anderes. Ingenieure aller Fachrichtungen seien hoch gefragt, auch solche mit Expertise in klassischen Bereichen wie der Metallverarbeitung oder dem Fahrzeugbau.
Außerdem würden die Studieninhalte den Erfordernissen des Arbeitsmarkts kontinuierlich angepasst. Die Rolle von Software, Künstlicher Intelligenz und Big Data seien mittlerweile integraler Bestandteil der klassischen Ingenieursausbildung.

Auch in der Wirtschaft ist man alarmiert. Mangelnder Ingenieurs- und Fachkräftenachwuchs sei „eine Wachstumsbremse erster Güte“, die das Potenzial habe, dem Wirtschaftsstandort Baden-Württemberg nachhaltig zu schaden, sagt Dietrich Birk, Geschäftsführer des Maschinenbauer-Verbands VDMA im Südwesten.
Zwar ringt man speziell in der Industrie schon seit Jahrzehnten um mehr Fachkräfte und wirbt auf Ausbildungsmessen und mit Imagekampagnen, speziell auch, um mehr Frauen für eine Ingenieurskarriere zu begeistern. In Summe reichen die Anstrengungen aber nicht. Der coronabedingte Strömungsabriss lässt die Fachkräftelücke perspektivisch immer größer werden.
Ingenieurs-Lücke im Südwesten massiv
Allein in Baden-Württemberg gab es im Herbst 2021 nach Daten des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) mehr als 19 200 offene Ingenieurstellen, was etwa 15 Prozent des bundesweiten Bedarfs entspricht. Der Druck zur Sicherung der Fachkräftebasis sei daher im Industrieland Baden-Württemberg besonders hoch, folgern die Verbände und Uni-Rektoren in ihrem Brief.
Haben die Hochschulen selbst Fehler gemacht?
Warum wollen also immer weniger junge Menschen Ingenieur oder Ingenieurin werden, obwohl der Bedarf hoch und die Gehaltsaussichten rosig sind? Neben den Verwerfungen der Corona-Krise und einer demografischen Delle, die aktuell auf die Studienzahlen generell einwirkt, gibt es auch hausgemachte Probleme im Bildungssystem.
Wer heute Ingenieur werden will, hat nach Daten der Hochschulrektorenkonferenz die Qual der Wahl. 624 Studiengänge gibt es – allein in Baden-Württemberg. Wurden Ingenieure früher nur an Unis, Technischen- und Fachhochschulen ausgebildet, stehen heute zusätzlich eine Vielzahl von Studiengängen, etwa an Dualen Hochschulen oder Technischen Akademien, in Vollzeit, berufsbegleitend oder als Fernstudium zur Verfügung. Den Überblick zu behalten, ist selbst für Fachleute schwierig.

Qual der Wahl beim Studium
Eine „weitere Ausdifferenzierung“ des Angebots scheine daher „eher keine Notwendigkeit zu sein, heißt es denn auch in dem Rektoren-Brief. HTWG-Präsidentin Rein aus Konstanz wird deutlicher: „Die Komplexität des Angebots ist verwirrend“, sagt sie. Sie zu reduzieren, werde eine der künftigen Aufgaben sein.
Ähnlich sieht es VDMA-Geschäftsführer Birk. Die „heutige Spezialisierung vieler Bachelor-Studiengänge birgt die Gefahr, dass die Ingenieursausbildung zerfasert und Studienwillige verwirrt. Standards zu Beginn des Studiums wären hier wünschenswert.“ Der Verbands-Chef spricht sich daher für einen breit angelegten Bachelor aus. Auch Birk sagt: „Wir brauchen jetzt dringend wieder Ingenieure.“