Früher war nicht alles besser. In den 60er-Jahren gab es einen Generationenkonflikt, der in den Studentenprotesten von 1968 mündete. In den 70er-Jahren sorgte der RAF-Terror in der Bundesrepublik für Angst und Schrecken. In den 80er-Jahren begann die ökologische Krise, für die die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl 1986 symbolisch steht. Und in den 90er-Jahren entstand eine Massenarbeitslosigkeit, der die damalige Regierung unter Helmut Kohl – Stichwort Reformstau – wenig entgegen zu setzen hatte. Doch irgendwie wird man das Gefühl nicht los, dass heute – auch wenn die Wirtschaft läuft und die Arbeitslosigkeit wieder abgeschmolzen ist – die Gesellschaft vor einer ganz besonderen Zerreisprobe steht.
„Wir durchleben eine komplexe Rechtfertigungskrise“, sagt der Philosoph Rainer Forst, der an der Goethe-Universität Frankfurt lehrt und dort im Rahmen des neu gegründeten Forschungsinstituts „Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ arbeitet. Für den abnehmenden sozialen Zusammenhalt sieht der 55-Jährige mehrere Gründe. Einer davon seien die Folgen der globalen Finanzkrise. „In der Gesellschaft hat sich der Eindruck verfestigt, dass die wichtigsten Faktoren, die unser soziales Leben bestimmen, der Handlungsmacht nationaler Politik entzogen sind“, sagt er.
Hautfarbe und Herkunft spielen zunehmend wieder eine Rolle
Aus dem Gefühl heraus, dass übergeordnete Institutionen wie die Europäische Union und besonders die Gesetze des globalen Marktes unsere politische Autonomie einschränken, entstehe ein Wunsch nach Re-Nationalisierung. Ein klassisches Beispiel dafür sei der Slogan der Brexit-Bewegung „Take back control“ (Die Kontrolle zurückgewinnen).

Mit der Re-Nationalisierung gehe bisweilen auch eine Re-Ethnisierung der Politik einher. Hautfarbe und Herkunft spielen dabei zunehmend wieder eine Rolle. Es entstehe so eine Praxis der Diskriminierung und des Ausschlusses von allen, die angeblich nicht „hierher gehören“, diagnostiziert Forst.
Völlige Gleichheit ist utopisch
In Deutschland komme zusätzlich die schwierige Integration des Ostens hinzu. „In Ostdeutschland werden die dreißig Jahre seit der Wende von nicht wenigen Menschen als Niedergang und Kolonialisierung gedeutet“, analysiert Forst. „Diese Erzählung der Fremdherrschaft wird mit Fremdenfeindlichkeit zu einem Gebräu verrührt, aus dem sich rechte Parteien ernähren.“ Echte soziale Probleme würden so fehlgedeutet. Zwar sei es utopisch, eine Gesellschaft aufzubauen, in der völlige Gleichheit herrscht. Doch der Trend der letzten Jahrzehnte zu einer wachsenden Ungleichheit sei eine Gefahr für den Zusammenhalt. „Regionale, kulturelle und Generationenunterschiede sind nicht vermeidbar und sind auch so lange kein Problem, wie eine politische Kultur existiert, die Grundsätze und Verfahren des gerechten Interessensausgleichs enthält“, sagt Rainer Forst.
Dort aber, wo sich der Eindruck festsetze, dass ein solcher Ausgleich nicht mehr möglich oder von den Regierenden nicht gewünscht ist und die Reaktion darauf ein Protest ist, der die Demokratie in Frage stellt, sei der gesellschaftliche Zusammenhang gefährdet. „Das Band, das zusammenhält, zerreißt, wenn sich Gruppen verfestigen, die einander feindlich gegenüberstehen“, sagt er. Psychologische Faktoren seien in diesem Prozess nicht zu unterschätzen. Oft seien Mentalitäten und Ressentiments im Spiel, die auf eine lange Geschichte zurückgehen und entsprechend tief sitzen. Darauf könne nur eine konsequente Politik sozialer Gerechtigkeit antworten, die nicht neue Gräben zwischen Einheimischen und Migranten aufreiße.
Philosophie liefert kein Patentrezept
Besonders kritisch ist Forst auf die rechtspopulistische AfD zu sprechen. „Die AfD ist eine destruktive Partei, die soziale Probleme so umdefiniert, dass Fremdenhass und die Pervertierung der Demokratie daraus resultieren“, sagt Forst, der als Vertreter der Frankfurter Schule gilt, zu der Philosophen wie Theodor Adorno, Max Horkheimer und Jürgen Habermas zählen. Ganz neu sei die Sorge vor einem gesellschaftlichen Auseinanderdriften allerdings nicht, betont Forst. „In der Geschichte der politischen Philosophie ist die Furcht vor dem sozialen Zerfall stets gegenwärtig gewesen“. Erklärungsansätze finden sich schon bei den Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Karl Marx sowie beim Soziologen Max Weber. „Hier lässt sich viel lernen, von den Diagnosen und auch den Lösungen. Aber jede Zeit hat ihre Verwerfungen und muss sich selbst verstehen, und sie muss eigene Auswege finden“, betont Forst. „Keiner dieser Denker hat das Ausmaß der heutigen globalen Ökonomie erahnen können – von der Digitalisierung ganz zu schweigen.“
Bildung, Wohnen und Geldanlage: Hier lauert Sprengstoff für unsere Gesellschaft

Nur wenige Bildungsaufsteiger: An den Universitäten dieses Landes studieren nur wenig Kinder aus Arbeiterfamilien. Die Mehrzahl der Studenten stammt aus Akademikerhaushalten. Nach Daten der Hans-Böckler-Stiftung schaffen es nur 24 Prozent der Arbeiterkinder an die Uni, bei Kindern aus Akademikerhaushalten sind es dagegen 71 Prozent. Bereits mehrfach hat die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) auf diesen Missstand aufmerksam gemacht. Doch nach wie vor wird Bildung in Deutschland vererbt. Schon in der Grundschule würden Arbeiterkinder aussortiert, monieren Kritiker.

Hohe Mieten in den Städten: Vor allem in Großstädten wie München, Frankfurt, Stuttgart oder Berlin explodieren die Mieten. Auch in Studentenstädten wie Konstanz, Tübingen oder Freiburg sind die Mietpreise in den letzten Jahren stark gestiegen. Normalverdiener können es sich kaum noch leisten, in den Stadtzentren zu wohnen und weichen aufs Umland aus, was dort wiederum für steigende Mieten sorgt. Wohnen ist die neue soziale Frage, betonen Mieterverbände. Immobilienbesitzer können sich dagegen freuen. Wer ein Haus in einer gefragten Wohngegend vermietet, kann sich Jahr für Jahr über steigende Renditen freuen.

Reiche sparen erfolgreicher: „Wer hat, dem wird gegeben“, heißt es schon im Matthäusevangelium. Das gilt besonders für die Geldanlage. Kleinsparer bekommen heute praktisch gar keine Zinsen mehr auf ihrem Sparbuch. Wer es sich dagegen erlauben kann, in Aktien zu investieren, kann im Laufe der Jahre ein Vermögen erwirtschaften. Zudem kennen sich wohlhabende Bürger im Durchschnitt besser auf dem Finanzmarkt aus oder können sich einen Vermögensberater leisten. Theoretisch lässt sich zwar auch mit kleinen Beträgen Geld am Aktienmarkt verdienen. Doch Kleinsparer schrecken oft vor den Risiken des Finanzmarktes zurück.

Digitalisierung schafft Verlierer: Wer Informatik studiert hat, der kann sich heute praktisch seinen Arbeitgeber aussuchen. Arbeitgeber ohne Software-Kompetenz haben dagegen sinkende Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Denn nicht jeder Mechaniker kann zum Experten für künstliche Intelligenz umgeschult werden. Soziologen sprechen vom „digital divide“, der digitalen Spaltung der Gesellschaft, die sich auch im Alltagsleben bemerkbar macht. Wer seine Bankgeschäfte online erledigt und seine Zugtickets im Internet kauft, spart so Gebühren. Wer jedoch auf den Kontakt am Schalter angewiesen ist, muss dafür einen Aufpreis bezahlen.

Ländlicher Raum wird abgehängt: Ob Brandenburg, Teile des Ruhrgebiets oder so manches Schwarzwaldtal: Nicht nur in Ostdeutschland gibt es strukturschwache Regionen. Dort fehlt es so ziemlich an allem, was ein gutes Leben ausmacht: Kindergärten, Schulen, Ärzte, ein Kultur- und Sportangebot sowie eine Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr. Zwar sind die Mieten auf dem Land niedrig, doch oft gibt es nicht genügend Jobs vor Ort, so dass vor allem junge Menschen lieber in die Städte ziehen. Dadurch verlieren viele ländliche Regionen an Dynamik.
Das Forschungsinstitut
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat ein „Institut für gesellschaftlichen Zusammenhalt“ ins Leben gerufen. Elf Einrichtungen aus zehn Bundesländern sollen ab November gemeinsam ein Forschungsprogramm für das dezentrale Institut erarbeiten. 2020 soll die vierjährige Hauptforschungsphase beginnen, für die das Ministerium 36 Millionen Euro zur Verfügung stellt. Beteiligt ist neben der TU Berlin und der Goethe-Universität Frankfurt unter anderem auch die Universität Konstanz. (td)