Wenn Hu Mei vor ein paar Jahren von ihrem Job erzählte, hatten viele sie noch bewundert. „Oh, wow, du hast es geschafft“, hieß es dann. Die 31-Jährige ist Angestellte eines Pekinger Start-Up, das Online-Spiele entwickelt. Ihr Gehalt findet sie okay. Ihr Büro ist im 14. Stock eines nagelneuen Hochhauses im Nordwesten der Stadt mit Blick auf einen Park. Auf ihrer Büroetage gebe es ein firmeneigenes Café mit gemütlicher Sofaecke und einem Kicker. Die meisten Kolleginnen und Kollegen sind in ihrem Alter.
Von wegen 40-Stunden-Woche
Doch inzwischen bezweifelt sie, ob sie ihren Traumjob gefunden hat. Mit ihrer Arbeit beginnt sie regulär morgens um 9 Uhr. Am Abend verlässt sie das Büro jedoch selten vor 21 Uhr. Und da sie für die Strecke nach Hause mit der U-Bahn noch mal mehr als eine Stunde unterwegs ist, schafft sie es oft nicht, vor Mitternacht im Bett zu sein. Auch samstags muss sie arbeiten. „996“ – Arbeiten von 9 bis 9 Uhr, sechs Tage die Woche, ohne zusätzlichem Lohn – das ist auch bei ihr im Unternehmen die Regel – inoffiziell. In ihrem Arbeitsvertrag steht die 40-Stunden-Woche.

„Kein Schlaf, kein Sex, kein Leben“, titelte die in Hongkong erscheinende South China Morning Post und schreibt über den seit einigen Wochen wachsenden Widerstand gegen die vielen Überstunden, die bei den meisten chinesischen Tech-Firmen üblich sind. Auf der Entwicklerplattform Github hat im März eine Gruppe von Entwicklern unter dem Stichwort „996.ICU“ zu diesem Protest aufgerufen. Die Aktivisten haben eine schwarze Liste auf ihre Webseite gestellt mit rund 100 Unternehmen, die nachweislich gegen Arbeitszeitgesetze verstoßen. Darunter sind Chinas Tech-Riesen Alibaba, Huawei, Tencent, Baidu, Xiaomi und JD.com. Millionenfach ist die Seite seitdem angeklickt worden.
Wegen Überarbeitung auf Intensivstation
Der Zusatz ICU steht für Intensive Care Unit und ist eine Anspielung auf Beschäftigte, die wegen Überarbeitung auf der Intensivstation des Krankenhauses landen. Tatsächlich seien Todesfälle von Angestellten in vielen Tech-Firmen „auf lange Überstunden zurückzuführen", schreibt die China Daily, eine chinesische Staatszeitung.
Alibaba-Chef in der Kritik
„Wir brauchen diejenigen nicht, die bequem acht Stunden arbeiten“, erwiderte Richard Liu, Chef des Online-Händlers JD.com, und zog den öffentlichen Zorn auf sich, als er die Aktivisten als „Faulenzer“ bezeichnete. Am stärksten in der Kritik steht allerdings Alibaba-Chef Jack Ma. Der reichste Mann Chinas nannte „996" und die 72-Stunden-Woche einen „großen Segen“. Junge Leute sollten die Kultur der Überstunden, wie sie in vielen Tech-Unternehmen vorherrsche, schätzen und für sich nutzen. Wer in seinem Unternehmen anfange, solle auch bereit sein, zwölf Stunden am Tag zu arbeiten.
Regierung stärkt Aktivisten
Die chinesische Regierung hatte sich zunächst nicht offiziell geäußert. Sie hat die Debatte aber auch nicht unterbunden wie es im autoritären China sonst bei allzu hitzigen Kontroversen häufig üblich ist. Inzwischen haben die Verlautbarungs-Organe der kommunistischen Führung Position bezogen – und zwar zugunsten der Aktivisten.
„996 hat nichts mit Strebsamkeit zu tun. Es geht um Profit", kritisierte das von der Kommunistischen Partei herausgegebene Journal Banyuetan. Beschäftigte sollten auf ihre Gesundheit achten und sich ihrer Rechte bewusst sein, schreibt auch die vom Parteiorgan Volkszeitung herausgegebene Global Times. „Sie sollten sich trauen 'Nein' zu sagen gegenüber Unternehmen, die sich nicht an das Arbeitsrecht halten." Die Volkszeitung selbst verwies darauf, dass in China die 40-Stunden-Woche gilt. 36 Überstunden im Monat seien erlaubt, müssten aber entsprechend entlohnt werden.
Ma, selbst KP-Mitglied, ist seitdem zumindest ein Stückweit kleinlauter geworden. Arbeit solle Spaß machen, und innerhalb der zwölf Stunden pro Tag müsse selbstverständlich Zeit für Reflexion und persönliche Weiterbildung sein, schrieb er auf Weibo, der mit Twitter vergleichbare chinesische Kurznachrichtendienst. Ma betonte: „Es geht nicht um mühsame körperliche Arbeit und es hat nichts mit Ausbeutung zu tun.“ Seinen eigenen Erfolg führt er auf harte Arbeit zurück. Und er habe sich schließlich auch nicht ausgebeutet gefühlt.
Vorwurf der Ausbeutung
In den sozialen Medien haben sich Tausende Mitarbeiter von Tech-Unternehmen zu Wort gemeldet und berichten von ihren Erfahrungen. Einige vergleichen sich bereits mit Arbeitern von Unternehmen wie Foxconn oder Pegatron, die weltweit bekannt sind für ihre miserablen Arbeitsbedingungen und dafür auch in China in Verruf geraten sind. Technologie-Unternehmen wie Huawei oder Tencent hatten sich bewusst von diesen Firmen abgegrenzt und mit ihrer „campus-artigen Atmosphäre“ auf ihren Firmengeländen geworben. Von „Ausbeutung bloß im modernen Gewand“ schreibt ein Aktivist über die Zustände bei Huawei.
Veränderte Einstellung
Diese Vergleiche hält der Pekinger Arbeitsmarktexperte Han Jun jedoch für überzogen. Er glaubt auch, dass die Ansprüche der jungen Generation gestiegen sei. Die Einstellung zu langen Arbeitszeiten habe sich durch den steigenden Wohlstand und durch die zunehmenden Freizeitmöglichkeiten verändert, sagt der Professor, der am Institut für Arbeit und Personalwesen an der Volksuniversität in Peking lehrt. Angestellte legten größeren Wert darauf, ihre freie Zeit zu genießen.
Die von Jack Ma propagierte Arbeitsmoral hält Han jedoch auch nicht für zeitgemäß. In der sich wandelnden Wirtschaft seien heute andere Qualitäten gefragt als nur Fleiß. Der Bedarf an besonderen Fähigkeiten und an Kreativität werde größer, sagt Han. „Wenn sie ihre Angestellten auffordern, übermäßig lange zu arbeiten, dann sinkt die Qualität der Leistung und die Effizienz.“