Es ist der 1. September 1984. An diesem Samstagvormittag gibt es in Geislingen an der Steige nur ein Thema, beim Bäcker, beim Metzger, auf der Straße, überall. Nachher, um drei, steigt endlich das Ereignis, auf das die kleine Gemeinde hin gefiebert hat. Fußball, das Spiel der Spiele steht an, in der 1. Runde des DFB-Pokals tritt der heimische Sportclub, zu dieser Zeit als Aufsteiger Tabellenzweiter der Oberliga Baden-Württemberg, gegen den Hamburger SV an.

Die Hanseaten waren in der abgelaufenen Bundesligasaison Zweiter geworden hinter dem VfB Stuttgart, sie hatten 1983 den Europapokal der Landesmeister, 1:0 im Finale gegen Juventus Turin, Torschütze Felix Magath. Der Spielmacher des HSV ist, als Geislinger Autogrammjäger eine Stunde vor Anpfiff den Mannschaftsbus umlagern, ebenso an Bord wie Trainer Ernst Happel, Manager Günter Netzer und viele andere Größen der Zeit – wie Manfred Kaltz, der Erfinder der Bananenflanke, Dietmar Jakobs, der designierte Nationalmannschafts-Libero, Uli Stein, der Klassekeeper oder Mark McGhee, die schottische Wuchtbrumme im Angriffszentrum. Artig schreiben die Asse ihren Namen auf Postkarten, T-Shirts oder in Panini-Alben.

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Währenddessen macht Jakob Baumann, Trainer des SC Geislingen und Vater des späteren Barcelona-Olympiasiegers über 5000 Meter, Dieter Baumann, mit seinen Jungs noch einen kurzen Spaziergang durchs Eybacher Tal, in dem das SC-Stadion liegt. Beine lockern, Kopf freikriegen, eine kurze Ansprache, um danach das in Angriff zu nehmen, was die SC-Kicker in den Tagen zuvor interessierten Reportern mitgeteilt hatten.

Dass man eine Chance habe, wenn man längere Zeit ein 0:0 halten und selbst in Führung gehen könne. So oder so, hatte Spielausschuss-Mitglied Gerhard Herrmann im breitesten Schwäbisch erklärt, „werdet mir unser Fell so deier wie meglich vekaufe“.

Dicht gedrängte Zuschauer

Als Schiedsrichter Manfred Probst aus Waldsassen anpfeift, stehen die meisten Zuschauer, offiziell 7000 an der Zahl, dicht gedrängt hinter den Banden am Spielfeldrand. Andere drängen sich auf einer provisorischen Tribüne, die unter anderem gehalten wird von drei Kisten Bier und zwei Backsteinen.

Der Andrang ist riesig: Die Zuschauer nutzen jede Möglichkeit, um die Partie verfolgen zu können. So wurden aus Bierbänken und -kisten ...
Der Andrang ist riesig: Die Zuschauer nutzen jede Möglichkeit, um die Partie verfolgen zu können. So wurden aus Bierbänken und -kisten schnell einmal improvisierte Tribünen gebaut, um das Spektakel auf dem Rasen verfolgen zu können. Bilder: Imago | Bild: imago sportfotodienst

Einige Fans sind in Bäume geklettert und schauen von oben herab auf das Geschehen. Und was alle sehen, ist der Hammer. Die Amateure spielen munter mit, kennen kein Pardon in den Zweikämpfen und sind bei sommerlichen Temperaturen flink auf den Beinen, was man von den HSV-Profis nicht behaupten kann. In Halbzeit eins versemmelt Michael Schröder eine gute Chance und einmal muss SC-Torwart Alex Pietsch gegen Jürgen Milewski zeigen, dass er ein Guter seines Fachs ist.

Hatten keinen Spaß: Der HSV-Trainer Ernst Happel (l.) mit Manager Günter Netzer (m.).
Hatten keinen Spaß: Der HSV-Trainer Ernst Happel (l.) mit Manager Günter Netzer (m.). | Bild: imago sportfotodienst

Das Tor aber fällt tatsächlich auf der anderen Seite, in der 29. Minute hämmert Wolfgang Haug den Ball mit dem linken Außenrist an Stein vorbei zum 1:0 ins Netz, der Halbzeitstand.

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Zur zweiten Halbzeit erwarten die Zuschauer einen Sturmlauf der Hamburger. Von wegen. Die klaren Chancen verzeichnet der überfallartig konternde Außenseiter. Kaum war Klaus Perfetto freistehend an HSV-Schlussmann Stein gescheitert, macht er‘s beim zweiten Mal besser.

Platzsturm aus Freude

Ein trockener Schuss aufs kurze Eck, 2:0 nach 71 Minuten. Schon jetzt fluten euphorisierte Schwaben den Platz, erst recht aber 20 Minuten später, als Schiri Probst abpfeift. Von den HSV-Stars will jetzt niemand mehr etwas wissen. Im Stechschritt eilen die Verlierer in die Kabine, Spötter werden später behaupten, da seien sie deutlich schneller gewesen als während des Spiels.

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Die Helden sind jetzt die Perfetto-Brüder, neben dem Torschützen Klaus kickt auch noch der Michael für den SC, die Haug-Brüder Uli und Wolfgang, die Baumänner, Trainer Jakob Baumann und sein Sohn Rolf, und, und, und. Klaus Perfetto versteckt sein Trikot mit der Nummer neun in der Sporttasche. „Das gebe ich nie mehr her“, jauchzt er im Getümmel auf dem Rasen.

Vorstopper Dieter Thurau trägt zwei blutunterlaufene Streifen am Hals als Auszeichnung der besonderen Art. „Vielleicht war‘s der McGhee“, sagt er, „ich hab nix gespürt, das ist der Wahnsinn.“ Michael Perfetto lugt der Triumph aus den Augen. „Es ist alles genau so gekommen, wie wir es uns ausgemalt haben.“ Derweil gibt Felix Magath kurz vor dem Abgang zu: „Das Schlimmste heute ist, dass wir keine Siegchance hatten.“

Enttäuscht über die Hamburger Leistung

Warum das so war, erklären dann die Sieger. Klaus Perfetto sagt lachend: „Also gegen diese Abwehr war wirklich leicht zu spielen.“ Trainer Baumann sagt zu den Hamburgern: „Ich bin enttäuscht, wie wenig die sich gewehrt haben“. Uli Haug, Magaths Antipode im Geislinger Trikot, lästert kopfschüttelnd: „Deren Einstellung, der Kaltz lief nach den beiden Toren doch herum, als ginge ihn das alles nichts an. Das ist doch deren Beruf! Wenn ich so arbeiten würde, säße ich längst auf der Straße.“ Uli Haug, der Spaß- und Freizeitfußballer auf hohem Niveau, arbeitet als Industriekaufmann und sitzt nicht auf der Straße.

Husarenstücken der Geislinger Kicker

Alle anderen schwäbischen Helden, die selbstverständlich ebenfalls einer hauptberuflichen Beschäftigung nachgehen, auch nicht. Das Husarenstück der Geislinger Kicker, von denen einige heute noch in der Seniorenmannschaft des SC dem Ball nachjagen, der Sieg gegen den HSV war denn am Ende auch der Triumph von zwei Sportartikel-Kaufleuten, eines Industriekaufmanns, eines Grund- und Hauptschullehrers, eines Autolackierers, eines Postbeamten, zweier Studenten, eines Bäckermeisters, eines Krankenkassen-Azubis, eines Kfz-Mechanikerlehrlings und eines gelernten Metzgermeisters, der inzwischen als städtischer Angestellter arbeitet, über zwölf Berufsfußballer. Und, mit einem letzten Blick auf die Männer auf der Trainerbank, der eines Malermeisters über einen preisgekrönten Fußballlehrer.