Herr Streich, acht Spiele in Serie ohne Sieg, zuletzt ein 0:3 in Hannover – sind Sie froh, dass die Saison zu Ende ist?
Noch ist sie ja nicht zu Ende, noch kommt das Spiel gegen Nürnberg. Die sind zwar abgestiegen, aber wenn sie ihre drei vergebenen Elfmeter reingeschossen hätten, sähe es anders aus. Wir werden mit Energie und Entschlossenheit reingehen, wollen zeigen, wie gut wir sein können. Wir müssen den Fans etwas bieten zum Abschluss und uns selbst auch – das gute Gefühl, mit einem Sieg in den Urlaub zu gehen.
Der Urlaub ist aber dringend notwendig.
Natürlich brauchen wir Erholung. Aber in Hannover lag es nicht an der Müdigkeit, sondern an der falschen Vorbereitung auf das Spiel. Ich habe den Fehler gemacht und die Abläufe geändert. Keine Videos, kein elf gegen elf, kein Zwang, kein Druck, wir wollten es mit Leichtigkeit angehen. Aber das haben wir dann nicht hingekriegt und Spieler, auch erfahrene, taktisch Sachen gemacht, da hab‘ ich gedacht, ich glaub‘s nicht. Und als sie es dann in der Analyse gesehen haben, haben sie es selbst auch nicht glauben wollen.
Und Ihre Schlüsse daraus?
Wir können Leichtigkeit nicht, wir müssen immer voll an die Kante gehen und ich muss die Spieler immer puschen, in jedem Training und in jedem Spiel. Das ist die Realität. Und wenn wir es auch selber kaum mehr hören können: Wir müssen demütig bleiben und wissen, woher wir kommen und wer wir sind.
Ihre Mannschaft ist diese Saison sehr unterschiedlich aufgetreten – stark sind die vier Punkte gegen Mönchengladbach und Wolfsburg ein 3:0 gegen Leipzig und zwei Unentschieden gegen die Bayern, schwach dagegen null Punkte gegen Mainz und nur einer gegen Hannover. Haben Sie Erklärungen dafür?
Wir haben nicht die notwendige fußballerische Stabilität reinbekommen. Es gab in der Vorrunde eine Phase, da waren gute Entwicklungen zu sehen, da hatte ich auch bei der Aufstellung ein gutes Gefühl, dass es passt in der Balance – schnelle Spieler auf dem Platz, zweikampfstarke Spieler auf dem Platz, Strategen auf dem Platz. Nach dem Gladbach-Spiel (3:1; die Red.) hatte ich gedacht, das es was ganz Besonderes werden könnte in dieser Saison. Aber durch die Verletzungsdichte, die wir dann hatten, ist uns das auseinandergerissen worden. Und dann mussten wir extrem improvisieren, gerade in der Rückrunde.
Letztes Jahr in Mainz hat der SC Freiburg einen Elfmeter in der Halbzeitpause kassiert – per falsch gehandhabtem Videobeweis. Inzwischen wird der Videobeweis besser umgesetzt, nur beim Handspiel schwimmen die Schiedsrichter so sehr, dass sie immer unsicherer und schlechter werden. Einverstanden?
Die Handspielregel wird nicht richtig angewendet. Im Bestreben, dass ja keiner die Hand ein bisschen rausstreckt, ist das Ganze absurd geworden – ich sage nur: Spieler mit den Händen auf dem Rücken, das ist doch nicht normal, so kann ich keinen Zweikampf führen. Und das alles, weil Spieler angeschossen wurden aus zwei Metern Entfernung und es dann Elfmeter gab.
Aber Handspiel ist kompliziert.
Warum? Handspiel ist, wenn eine klare Torchance verhindert wird durch eine bewusste Bewegung oder wenn der Arm oder die Hand ganz weit weg vom Körper ist und der Ball blockiert wird. Aber es werden ja generell zu viele Elfmeter gegeben.
Wie meinen Sie das?
Da heißt es dann immer, der Elfmeter ist berechtigt, weil eine Berührung stattgefunden hat. Was für ein Unsinn. Wenn eine Berührung stattfindet, ist das kein Foul. Eine Berührung ist eine Berührung und ein Foul ist ein Foul. Und ein Elfmeter darf es nur geben, wenn es ein Foul gegeben hat im Strafraum – so, dass der Spieler wegen des Fouls nicht mehr weiterlaufen konnte.
Anderes Thema: England mit seinen vier europäischen Finalteilnehmern erntet gerade den Erfolg einer qualitativ verbesserten Nachwuchsarbeit. In Deutschland hängt man da inzwischen hinterher, vor allem, was die individuellen Fähigkeiten der Spieler betrifft. Wo sehen Sie Gründe dafür?
Die Spieler in der Jugend dürfen nicht zu viel Druck haben, das Ergebnis darf nicht im Mittelpunkt stehen. Im Alter von acht bis zwölf, das ist die Basis, da muss man mit den Jungs ganz viele fußballspezifische Dinge üben. Zum Beispiel Turniere veranstalten wie die Belgier etwa. Die stecken kleine Felder ab und lassen dauernd eins gegen eins oder zwei gegen zwei spielen. Das gruppentaktische, elf gegen elf, kommt erst später. Und das ist richtig, das System muss nachgelagert sein. Außerdem darf man nicht zu früh urteilen, der schafft‘s und der nicht. Wenn das stimmen würde, hätte es ein De Bruyne nicht geschafft. Der war klein, hatte keine Kraft, die kam erst später – und wie.
Auf die Jugendtrainer kommt es an.
Genau. Die sollten ganz viel pädagogisch mit den jungen Burschen arbeiten und nicht versuchen, mit 14-Jährigen zehn verschiedene Systeme spielen zu lassen. Also: Ball geben, kicken lassen, Tipps geben, komm, zock mal mit dem Ball, aber auch mal ohne Ball, viel individuell beibringen.
Die Bundesliga ist top in den Zuschauerzahlen, viele Fans sind allerdings eher daneben. Pyrotechnik, zerlegte Stadion-Toiletten, wegen Schlägereien gesperrte Bahnhöfe, Beleidigungen gegen Klubs wie RB Leipzig oder Personen wie Dietmar Hopp, und Schalke-Fans haben sogar den Attentäter von Dortmund gefeiert – wie bewerten Sie das?
Fußball hat einen wahnsinnig hohen gesellschaftlichen Stellenwert. Gehen viele Leute hin, dann gehen die unterschiedlichsten Menschen hin. Wenn hunderttausend unterwegs sind, sind alle Denkweisen unterwegs. Wir haben eine ungute gesamtgesellschaftliche Entwicklung, Toleranz, Zuhören, Rücksichtnahme gehören nicht unbedingt zu den Werten, die unsere Epoche auszeichnet. Es geht im weitesten Sinne auch um Demokratieverständnis, denn Toleranz, das Andersdenkende, die Unterschiede, sind es doch, die eine Gesellschaft befruchten. Nicht wenige versuchen genau das zu diskreditieren oder gar zu zerstören. Sie nutzen die Freiräume der Demokratie aus, um antidemokratisch oder rassistisch oder gewalttätig handeln zu können, ohne gleich starke Konsequenzen zu erfahren. Wir müssen aufpassen.
Dann wäre da das Finanzielle. „Der Gott des Geldes wird immer größer. Und irgendwann verschlingt er alles“, haben Sie selbst gesagt. Wie weit ist er denn schon mit seiner Fresssucht?
Man sieht Auswüchse bei großen Klubs, die viel Geld haben. Zum Beispiel Manchester City – die sind ja überführt, mal schauen, wie da geurteilt wird.
Sperren für die Champions League?
Ja, ich begrüße es, dass der bestraft wird, der gegen die Regeln verstößt. Es geht mir nicht um einen bestimmten Verein, nicht um groß oder klein, sondern ums Grundsätzliche: Wer Regeln bricht, muss Strafe bekommen. Im Falle Manchester City wird sich zeigen, ob es im Fußball bei so vielen Verstrickungen noch eine Unabhängigkeit gibt.
Gibt es denn noch Solidarität im Fußball?
Ja, bei uns in Deutschland gibt es noch eine gewisse Solidarität, dahingehend, dass wir, der SC Freiburg, Augsburg und Mainz, dass die kleinen Vereine auch noch dazugehören, dass wir auch für das Wohl der Bundesliga von Bedeutung sind. Wenn wir im Land unterwegs sind, erfahren wir viel Sympathie – weil wir so sind, wie wir sind, viele Leute erfreuen sich daran.
Da schwingt ein Hauch von Fußballromantik mit.
Ja, aber das ist meine Sichtweise. Klar, es geht darum, ob man eine rein monetäre Sichtweise hat oder ob man glaubt, dass Fußball mehr ist als Geld verdienen mit Kicken am Samstag mit den besten Spielern. Ich gucke schon auch gern Champions League, aber wenn sich welche nicht ans Financial Fairplay halten, will ich die nicht mehr sehen.
Es werden ständig neue internationale Wettbewerbe erfunden, bald folgt wohl eine Champions League, die wie ein Ligen-Gebilde mit Auf- und Abstieg daherkommt, die Unverhältnismäßigkeit der Ablösesummen, der Einkommen, der Umsätze und der Gewinne im Vergleich zum realen Leben – gibt es tatsächlich keine Gefahr, dass irgendwann der Fan das Schlusszeichen setzt?
Die Fankultur verändert sich. Wer kann in England noch zu, sagen wir, Arsenal London gehen? Es gibt Leute, die im mittleren Bereich verdienen, Familie, zwei Kinder haben, die alles Geld in Karten stecken, aber sehr viele und immer mehr sind ausgeschlossen vom Stadionbesuch, weil es einfach zu teuer ist. Es gibt in England eine immer größer werdende Spaltung zwischen arm und reich, in Deutschland gibt es das in der Form nicht. Wir haben einen relativ breiten Mittelstand, überwiegend geht es uns gut, und als Fan kannst du, wenn du rechtzeitig dran bist, preisgünstig auf einen Stehplatz gehen.
Sie sind jetzt seit siebeneinhalb Jahren Cheftrainer beim SC Freiburg und haben wahrlich viel erlebt. Eines aber nicht, dass Sie infrage gestellt werden. Vielen Ihrer Kollegen passiert das, haben Trainer ein Akzeptanzproblem?
Es ist die Schnelllebigkeit. Klar gibt es generell weniger Kontinuitäten in der Berufswelt, aber Fußballtrainer ist ein Beruf, den man kaum vergleichen kann mit anderen Berufen. Ich glaube nicht, dass es ein generelles Akzeptanzproblem gibt. Wir Trainer sind heutzutage halt viel öffentlicher als früher, durch die neuen Medien, durch eben die Schnelllebigkeit. Wenn ein Trainer an zwei, drei Standorten war, dann kennen ihn wahrscheinlich mehr Menschen als den Außenminister von Deutschland. An vielen Standorten ist es sehr schwierig, in Ruhe arbeiten zu können, es geht um viel Geld, viele Leute wollen mitmischen. In Freiburg ist das anders, das gibt dir einen gewissen Schutz. Es heißt aber nicht, dass wir keinen Druck haben, nur machen wir uns den selbst.
Wie viel Schuld haben die Medien?
Es geht nicht um die Medien und darum, ob die Schuld haben, es geht um die Konsumenten. Jeder von uns konsumiert Nachrichten, aber wie? Wie lange liest man einen Artikel? Hat man Interesse an tiefgründiger Analyse oder genügt die Schlagzeile? Mithin geht es um das Konsumverhalten der Bürger – und um Bildung: Wie reflektiert man eigene Verhaltensweisen?
Am allerschnellsten sind die Social-Media-Kanäle. Eine Bereicherung oder eher Ärgernis, nehmen wir doch mal das Theater um das vergoldete Ribéry-Steak?
So ein goldenes Steak, das ist ein Ding. Oder eben auch nicht. Es wird auf dieser Welt täglich jede Menge Luxus gekauft, Handtaschen, Pelze, Autos, Schiffe. Der Franck war halt persönlich beleidigt – und hat dann falsch reagiert.
Ribéry ist ja auch schon alt. Die Jungen kennen sich richtig aus mit social media, aber Risiken hat es auch?
Es ist mehr Freiheit, gleichzeitig aber auch mehr Kontrolle. Wenn einer abends weggeht, muss er aufpassen. Egal wo er ist, irgendeiner macht ein Foto, da müssen nur ein paar Biergläser hintendran stehen, und schon hat er ein Problem, obwohl er selbst überhaupt nichts getrunken hat. So entsteht schnell eine Drucksituation. Gleichzeitig sind es Medien, um sich nach außen zu öffnen – und zum Beispiel mit einem Freund, der in Mumbai in einem Hotel arbeitet, zu skypen. Es ist Fluch und Segen, aber doch viel Fluch.
Sie sind seit 1995 als Fußballlehrer im Einsatz, was hat sich im Trainerberuf verändert zu damals?
Es werden mehr Systeme gespielt, es ist taktisch variabler geworden. Die Gegner werden viel mehr durchleuchtet. Überall gibt es viel mehr Mitarbeiter, mehr Physiotherapeuten, mehr Spezialisten. Es ist viel mehr Geld im Geschäft. Spieler dürfen nicht mehr heimatverbunden sein, weil sie ausgeliehen werden. Und es wird um junge Spieler in einer Art und Weise gerangelt, die unschön ist, denn es gibt immer mehr Berater, auch schon im Jugendbereich.
Also hat sich alles verändert. Noch mehr?
Es gibt eine gesteigerte Individualisierung durch mehr Trainer, es gibt Vereine, die leisten sich teure Räume, wo Bälle aus der Wand kommen und von den Spielern an bestimmte Plätze geschossen werden müssen, es geht vermehrt um Wahrnehmung und Reaktion, um Handlungsschnelligkeit, um biomechanische Prozesse, und die Athletik hat zugenommen, also die Fähigkeit, das Technische auf gleichem Niveau in viel höherem Tempo.
Sie haben noch nicht von der Ernährung der Fußballprofis gesprochen. Ihr Kollege Friedhelm Funkel hat unlängst erklärt, er habe als Spieler noch wenige Stunden vor Anpfiff bei der Mama Kasseler mit Sauerkraut gegessen.
Der Friedhelm und das Kasseler. Nein, ginge gar nicht mehr. Ernährung ist ein wichtiges Thema. Gutes Essen versteht sich von selbst, vor allem geht es um die Nachbereitung mit Nahrungsergänzungsmitteln. Viele Spieler haben zudem einen Privattrainer engagiert, eventuell einen Osteopathen, einen eigenen Physio, Vertrauensärzte. Fast jeder kümmert sich mehr um sich selber, weil es eine enorme Konkurrenzsituation ist und er die Möglichkeit hat, in den paar Jahren Profifußball so viel Geld zu verdienen, dass er später unabhängig ist.
Sie sind weit über den Fußball hinaus bekannt. Sie erhalten einen Preis für „kreativen Eigensinn“, werden als Bücherfreund geehrt, bekommen die Goldene Narrenschelle, stellen sich an der Uni Freiburg politischen Diskussionen und positionieren sich öffentlich in vielen Lebensfragen. Was treibt Sie an?
Ich bin Fußballtrainer und beschäftige mich mit meinen Kollegen die ganze Zeit mit Fußball, mit Gewinnen, Verlieren, Ausbilden. Aber ich sehe doch trotzdem die Entwicklungen in der Welt, habe ja auch Geschichte studiert – und ich habe die Möglichkeit, mich zu äußern und gehört zu werden, weil ich nicht ganz unbekannt bin. Ich komme aus einem Land, in dem es in den letzten 120 Jahren unglaubliche Umbrüche gegeben hat. Viele schlimme Dinge, die passiert sind, wurden wenige Jahre zuvor noch nicht so erwartet. Die Jahre 1911, 1912, 1913, da hatte keiner mit dem Ersten Weltkrieg 1914 gerechnet. Oder die Weimarer Republik, da hatte auch niemand erwartet, was ab 1933 grausame Realität wurde. Wenn ich mich äußere, auch zu politischen Themen, dann sehe ich das als meine Bürgerpflicht.
Wir haben jetzt auch Kinder, die sich zu Wort melden. Was sagen Sie zu den Fridays-for-future-Streiks der Schüler?
Das ist super. Unsere Welt wird gestaltet von 40-, 50-, 60-Jährigen in Führungspositionen, und nun sehen die Kinder, dass nichts für sie, für ihre Zukunft getan wird. Sie müssen aufstehen, weil es die Alten ja nicht tun. Die, die abwinken, die Kinder würden nur protestieren, weil sie dann nicht in die Schule müssen, unterstellen ihnen, dass sie abgezockt sind und kein eigenes Bewusstsein haben. Die Kinder wollen eine Welt, in der es sich lohnt, drin zu leben.
Nächste Woche ist Europawahl. Was sagen Sie Menschen, die die Kandidatinnen und Kandidaten nicht kennen?
Ich kenne auch viele Kandidaten nicht. Es ist wichtig, demokratische Parteien zu wählen, dass diese antidemokratischen Strömungen, die sich gerade verbinden wollen, gestoppt werden. Das ist absurd: Wieso will sich ein Rechter in Dänemark verbinden mit einem Rechten in Deutschland – die wollen doch alle keine Ausländer! Was sie wollen, ist in ihren Ländern die Demokratien beschädigen. Diese Strömungen sind hochgefährlich, also: wählen gehen, richtig wählen, Demokratie stützen.
Zur Person
Christian Streich wurde am 11. Juni 1965 in Weil am Rhein geboren. Als Aktiver spielte er für den Freiburger FC, die Stuttgarter Kickers, den FC 08 Homburg (auch in der Bundesliga) und den SC Freiburg. 1995 begann Streich seine Trainerkarriere in der Freiburger Fußballschule. Am 29. Dezember 2011 übernahm er die SC-Profis. Zweimal schaffte er den Einzug in die Europa League, nach dem Abstieg in die 2. Liga 2015 führte er den Verein direkt zurück ins Oberhaus. Inzwischen ist er der dienstälteste Trainer der Bundesliga. (tim)