Vermutlich sind zwei Fußballmannschaften selten so schnell zusammengekommen und wieder auseinandergestoben wie am Sonntagabend die Bundesliga-Teams von Eintracht Frankfurt und RB Leipzig. Der Aktionsspieltag, der demonstrieren sollte, wie sehr sich der deutsche Fußball hinter der Bewerbung für die Euro 2024 vereint, sah nun einmal vor, dass man sich gemeinsam hinter der Banderole „United by Football“ versammelt. Doch in der Frankfurter Arena konterkarierte die Akustik jede Harmonie: Aus der Nordwestkurve erklangen erst gellende Pfiffe, dann der obligatorische Schmähruf auf die „Fußball-Mafia DFB“.
Den Akteuren war anzumerken, dass sie sich mit diesem Akt keine Sekunde länger als nötig aufhalten wollten. In Windeseile verschwand auch der Slogan wieder vom Spielfeld. Und das unweit des Stammsitzes des größten deutschen Sportverbandes. Seitdem DFB-Präsident Reinhard Grindel den Eintracht-Anhängern pauschal unterstellte, sie würden ein Länderspiel missbrauchen, um die Ambitionen auf die Euro 2024 zu torpedieren, gilt der Mann in den Fankurven als untragbar.
Entgegen den Eindruck aus dem Bid Book, in dem das Einflusslevel von Grindel als „very high“ (sehr hoch) beschrieben wird, stellt sich die Frage, ob der Verbandsboss für das wichtigste Zukunftsprojekt des deutschen Fußballs zur Last geworden ist. Die bröckelnde Hausmacht soll zu greifen sein. Ein Fernsehinterview für den NDR-Sportclub bei seinem Heimatverein SV Rotenburg sagte der 57-Jährige kurzfristig ab. Dafür kam sein Freund Peter Grewe zu Wort, der von einem tief verletzten Mann erzählte. Ist ja auch nicht angenehm, wenn einer über sich lesen muss, er sei „Poltergeist“ (Spiegel) oder „Schwachstelle“ (Süddeutsche Zeitung). Grindel hat die Ausrichtung des vierten großen Männerturniers nach der WM 1974, EM 1988 und WM 2006 zu seinem „Leuchtturmprojekt“ ernannt; es heißt sogar, er gehe zu Sitzungen, zu denen er gar nicht gehen muss; er führe Verhandlungen, die er nicht führen muss.
Viele meinen, es wäre längst besser, wenn sich der Chef nicht überall einmischt. Der ohnehin schwierigen Integrationsdebatte im Land hat er mit seinem Schlingerkus in der Causa Mesut Özil einen Bärendienst erwiesen – und dem türkischen Mitbewerber eine Steilvorlage für Rassismusvorwürfe gegeben. Die übergeordnete Botschaft hat DFB-Botschafter Philipp Lahm zuletzt lieber mal betont sachlich formuliert: „Ich sehe die EM nicht als Chance für ganz Deutschland, sondern für ganz Europa.“ Eine solche Stabilität oder auch Reisefreiheit bietet die Türkei tatsächlich nicht.

Doch im deutschen Lager wächst die Nervosität: Wenn die 17 stimmberechtigten Mitglieder der Uefa-Exekutive am Donnerstag nach der Präsentation der Bewerbungen hinter verschlossenen Türen im schweizerischen Nyon ihr Votum abgeben, ist der Evaluierungsbericht nicht das allein ausschlaggebende Kriterium. Der Report der Uefa-Administration sieht Deutschland bei den Menschenrechten, der Infrastruktur oder den Stadionkapazitäten vorne. Und es gibt ein Nachhaltigkeitskonzept, das gar nicht eingefordert wurde. Rauchfreie Stadien, gesunde Ernährung: Auch das sind Details, die in den Bewerbungsunterlagen auftauchen. Nur was zählt wirklich?
Die Türkei will mit Gewinngarantien punkten, indem keine Steuern auf das Event anfallen. Und auch die EM-Stadien gibt es natürlich mietfrei. Grindel lästerte in einem ZDF-Beitrag: „Wir haben natürlich darauf aufmerksam gemacht, dass unsere Mitbewerber aus der Türkei so ziemlich alles garantieren, was nicht niet- und nagelfest ist.“ Auch diese Einlassung hörte sich nicht nach Fingerspitzengefühl an. Für den DFB steht nach der nicht aufgeklärten Affäre ums Sommermärchen 2006 und dem verlorenen Ansehen durch den missratenen Auftritt bei der WM in Russland viel auf dem Spiel.
Einige Stimmen sind schon vergeben
Die Pro-DFB-Tendenz aus dem Prüfbericht könnte trügerisch sein. Denn es gibt nicht wenige in der (Fußball-)Welt, die den deutschen Moralaposteln gerne eins auswischen wollen. Mit Fifa-Boss Gianni Infantino, obwohl formal überhaupt nicht beteiligt, hat sich Grindel einen der wichtigsten Strippenzieher zum Gegenspieler gemacht. Dass sich der Polit-Seiteneinsteiger anfangs im Fifa-Council kritisch über Infantinos Expansionspläne äußerte, war mutig – aber letztlich hat auch der deutsche Novize eine Mammut-WM mit 48 Teilnehmern mitgetragen.
Ungeschickt war es von ihm, im Dezember 2017 einen Brief an Infantino zu verschicken, um ihn für dessen Besuch beim türkischen Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan zu rügen. Wenn überhaupt, tat man so etwas auf dieser Ebene im Vier-Augen-Gespräch. Aber Diplomatie war und ist nicht Grindels Stärke. Der oberste Fifa-Herr verbat sich barsch jede Einmischung, und offenbar ist der frühere Uefa-Generalsekretär dabei, alte Weggefährten zu gewinnen. Für den türkischen Fußball-Verband TFF sollen ohnehin der Ukrainer Grigory Surkis, der Kroate Davor Suker, der Bulgare Borislaw Mihailov oder der Spanier Juan Luis Larrea Sarobe stimmen.
Eines deutet sich an: Wenn der DFB die übernächste EM organisieren darf, dann wohl trotz und nicht wegen Grindel. Sollte es schiefgehen, ist seine zeitnahe Ablösung gar nicht mehr zu vermeiden. Nur ganz so schnell, wie sich die Mannschaften von Frankfurt und Leipzig getrennt haben, wird es nicht gehen.
Deutschland
- Das Land:
Einwohner: 82 Millionen
232 Einwohner pro km²
- Der Fußballverband:
Deutscher Fußball-Bund (DFB)
Gründung: 1900
Vereine: 25 000
Mitglieder: 7,1 Millionen
- Bisherige Sport-Großveranstaltungen:
Fußball-WM 1974 und 2006
Fußball-Europameisterschaft 1988
Olympische Spiele 1936, 1972
Die wichtigsten Fragen und Antworten zur EM-Vergabe
- Wann und wo findet die Vergabe der Fußball-Europameisterschaft 2024 statt? Das Exekutivkomitee der Europäischen Fußball-Union kürt den übernächsten EM-Ausrichter am Donnerstag in Nyon. Um 9 Uhr beginnt die Sitzung, um 13 Uhr steht die Präsentation der beiden Bewerber auf dem Plan, eine Entscheidung wird nicht vor 14.45 Uhr erwartet.
- Wer entscheidet über die EM-Vergabe? Im Gegensatz zum Weltfußball-Verband Fifa, bei der der Kongress aller 211 Mitgliedsländer mittlerweile den WM-Gastgeber bestimmt, fällt die Entscheidung über den EM-Ausrichter bei der Uefa weiter das Exekutivkomitee mit derzeit 17 Mitgliedern.
- Wie werden die deutschen Chancen eingeschätz? Die deutsche Bewerbung ist im Rennen um die Mehrheit der Stimmen der 17 Wahlberechtigten favorisiert. Die Türkei hatte schon mehrfach kandidiert und war zuletzt für die EM 2016 nur knapp an Frankreich gescheitert. Die bislang einzige Europameisterschaft in Deutschland fand 1988 statt, für die Türkei wäre es eine Premiere. Die Bewertung in dem Evaluationsbericht ist für die Mitglieder der Uefa-Exekutive jedoch nicht bindend. Im Rennen um die WM 2022 hatte sich Katar bei der Wahl durch das damalige Fifa-Exekutivkomitee trotz einer deutlich schwächeren Bewerbung gegen seine Konkurrenten durchgesetzt.
- Welche Spielorte sind in Deutschland vorgesehen? EM-Spiele sind vorgesehen in Berlin, Köln, Dortmund, Düsseldorf, Frankfurt, Gelsenkirchen, Hamburg, München, Stuttgart und Düsseldorf, das mit 46 264 Besuchern die kleinste Arena stellt.
- Wo fanden die bisherigen EM-Turniere statt? Frankreich (1960), Spanien (1964), Italien (1968), Belgien (1972), Jugoslawien (1976), Italien (1980), Frankreich (1984), BR Deutschland (1988), Schweden (1992), England (1996), Belgien/Niederlande (2000), Portugal (2004), Österreich/Schweiz (2008), 2012 Polen/Ukraine, Frankreich (2016). Die nächste EM findet europaweit, u.a. in München, 2020 statt.