Um sich vom faszinierenden Panorama der französischen Alpen einen ersten Überblick zu verschaffen, bietet sich in Grenoble die Gondelfahrt auf die Bastille an. Auch die deutsche Frauen-Nationalmannschaft hat kürzlich diesen touristischen Abstecher unternommen, wobei ein schöner Schnappschuss von Martina Voss-Tecklenburg entstand: die Bundestrainerin mit ausgebreiteten Armen vor der Bergkulisse. Ein passendes Motiv: Mit dem 3:0 (2:0) gegen Nigeria im Achtelfinale von Grenoble bieten sich auf einmal prächtige Perspektiven für ihre Fußballerinnen.
Anders als die Männer vor einem Jahr in Russland leisten sich die Frauen in Frankreich kein WM-Versagen, sondern setzen ein Statement, dass die oft beschworenen deutschen Tugenden gerade wieder en vogue sind. Eine vorzügliche Torhüterin und aufmerksame Abwehr, starke Standards und enorme Willenskraft sind die Trümpfe dieser Mannschaft.
„Wir haben in jedem Spiel das rausgeholt, um zu gewinnen. Diese Mannschaft hat einen unheimlichen Charakter, auch wenn wir noch nicht so glanzvoll Fußball spielen. Aber ich habe immer gesagt: Wir sind in einem Prozess“, bilanzierte Voss-Tecklenburg. Erst gestern Abend erfolgte die Weiterreise vom Flughafen Lyon nach Rennes, wo die deutsche Delegation nun in das geschätzte Golfresort in Bruz zurückkehrt, wo die WM-Reise begann. „Ich bin sehr froh, dass wir einmal durchatmen, einen Tag mal komplett freimachen können und dass wir auch gezielt darauf schauen können, was wir im Viertelfinale leisten müssen.“
Die 51-jährige Fußballlehrerin hat vieles richtig gemacht: Die kurze Vorbereitung hat verhindert, dass sich der Anflug von Lagerkoller ausbreitet. Die Zusammensetzung des Kaders stimmt. Die nach außen in den sozialen Netzwerken ausgestellte Harmonie wird nach innen mit Leben füllt. Und die Führungsqualitäten der lebenserfahrenen Chefin helfen: Die Optimistin vom Niederrhein dient als zentraler Ruhepol der Mission, den deutschen Frauenfußball zurück in die Weltspitze zu bringen.
So wächst der Optimismus auf dieser Tour de France gerade mit jeder Etappe. Selbst die kritische Almuth Schult schien nach dem sachlich gehaltenen Auftritt im Stade des Alpes gnädig gestimmt: „Wir haben uns von Spiel zu Spiel weiterentwickelt“, meinte die Torhüterin, die sich artig in der Mixed Zone hinsetzte, um Kapitänin Alexandra Popp ausreden zu lassen, ehe sie ihre Einschätzungen vortrug. „Ich würde sagen, die Offensive ist bei 80 Prozent, die Defensive bei 100 Prozent.“ Dass immer noch bisweilen fehlerhafte Aufbauspiel aus der Innenverteidigung kann der Charakterkopf unter der Latte damit aber nicht gemeint haben. Dass das im Umbruch befindliche Ensemble „fußballerisch was drauflegen kann“ (Co-Trainerin Britta Carlson) ist unbestritten, aber so lange Vorbild Popp vorne als Mittelstürmern wieder ein wichtiges Tor köpft, um dann hinten auf der Doppel-Sechs zu schuften, sind solche Mängel zweitrangig. Die 28-jährige Anführerin vereinte mit fast unendlich vielen Extrakilometern in ihrem 100. Länderspiel die Vorzüge einer Auswahl, die sich durch die Tore von Popp (20.), Sara Däbritz (27./Foulelfmeter) und Lea Schüller (82.) belohnte.
Im Viertelfinale wieder mit Marozsan
Martina Voss-Tecklenburg kündigte an, im Viertelfinale am Samstag (18.30 Uhr/ARD) gegen Schweden oder Kanada wieder auf Dzsenifer Marozsan zu setzen. Die 27-Jährige. die sich im deutschen WM-Auftaktspiel gegen China bei einer rüden Attacke von Shanshan Wang die mittlere Zehe des linken Fußes gebrochen hatte, sprach erstmals über ihre dritte Verletzungsgeschichte bei einer WM. Nie hat sie auf dieser Bühne gesund ihr Können zeigen können, 2011 in Deutschland hinderte ein Innenbandanriss im Knie sie an der Teilnahme, 2015 in Kanada wurde ein Bänderriss im Knöchel erst nach der Rückreise erkannt. Aber wegen dieser Pechsträhne will sie nicht hadern. „Es gibt Schlimmeres im Leben als einen gebrochenen Zeh. Ich weiß, der wird in wenigen Wochen heilen. Es gibt keinen Grund, den Kopf hängen zu lassen“, sagte sie. „Wenn man darüber nachdenkt, was letzten Sommer passiert ist, dann ist das nichts dagegen.“
Eine beidseitige Lungenembolie hatte für die in Budapest geborene Tochter des ungarischen Nationalspielers Janos Marozsan zeitweise lebensbedrohliche Ausmaße angenommen. Die dramatischen Umstände von damals helfen, jetzt alles in den richtigen Relationen zu verorten.