
Disziplin ist hier eine über viele Jahrzehnte eingeübte Tugend. Daher tanzt auch niemand aus der Warteschlange, während die Fahrgäste auf Einlass in den Zug warten. Geduldig stehen etwa zehn Personen an jedem Waggon, bis die Zugbegleiterinnen Fahrkarte, Name und Pass kontrolliert haben. Zugfahren in Russland ist über die langen Strecken etwa so komplex wie eine Flugreise anderswo – und das nicht nur während der WM. Bis zu 40 Minuten vor Abfahrt sollen Reisende am Bahnhof sein, so die Empfehlung.

Wenn alle eingestiegen sind, entspannen sich die Fahrgäste. Die Fahrt von Sotschi nach Moskau dauert genau 24 Stunden – das ist die schnelle Variante. Möglich sind auch 40 Stunden oder gar zwei volle Tage und Nächte – je nachdem, wie viel Geld man bereit ist zu zahlen. In den weniger luxuriösen Kategorien ist der Service eher mau, der Umgangston ruppig und ein Toilettengang kostet große Überwindung. Dieser Zug ist die Luxusvariante: Ein Mittagessen wird wie im Flugzeug serviert, Kinder bekommen Plastikspielzeug zum Mitnehmen, die Zugbegleiterinnen stellen sich persönlich vor.

Während die Landschaft am Fenster vorbeizieht, in Varianten von Gebüsch, Birkenwäldern und dem selteneren Blick auf weitflächige Wiesen und Hügel, hat die diensthabende Zugbegleiterin in Waggon 10 zu tun: Tee und Kaffee kochen und ausgeben, Fragen beantworten: Wo ist das Zugrestaurant? Wie lange hält der Zug an der nächsten Haltestelle? Olga Karatul, 35, aus Krasnodar, macht den Job gern, weil sie viel mit unterschiedlichen Menschen in Kontakt kommt. "Hart ist er aber auch", sagt sie und zeigt auf ihre Krampfadern: "Wir müssen zu viel stehen – und ich habe Schlafstörungen von dem unregelmäßigen Schlafrhythmus". Die Schicht teilt sie sich mit einer Kollegin: sobald alle Gäste kontrolliert sind, ruht sich eine aus. Zeit, den Blick über die vorbeiziehende Landschaft schweifen zu lassen.
Im Zugrestaurant haben sich währenddessen sieben Freunde aus Bissingen o.L. (bei Ulm) eingefunden und bemühen sich mit dem Kellner um Verständigung auf Englisch. Sie haben sich absichtlich für die Zugfahrt entschieden, um das Land besser kennen zu lernen. Russland hat bisher einen guten Eindruck gemacht: "Wir kamen mit einigen Ressentiments her", räumt Markus Weidele ein, "was wir erlebt haben, war beeindruckend: die Offenheit der Menschen". Die Fußballfans haben Erfahrung mit internationalen Turnieren und wissen die Atmosphäre jedes Mal zu schätzen. In Russland stimmten Organisation, Freundlichkeit und Sauberkeit.

Am folgenden Morgen gibt Olga Karatul Tee und Kaffee an die Passagiere aus; beide Getränke sind Lebenselixier für Zugreisende. In Bewegung bleiben ist Olgas Auftrag, acht Tage begleitet sie den Zug zwischen Moskau und Sotschi und zurück, dann Moskau – Kasan; danach sind acht Tage Pause vorgesehen. Es sei nicht ihre übliche Strecke, wegen der WM sei sie hierher versetzt worden, weil sie die Qualifikation für einen Zug höheren Ranges besitze. Während des Großereignisses werden die Besten in Russland gebraucht. In Bewegung ist auch Olgas Leben, genau weiß sie nicht, wie lang sie noch in Abinsk bei Krasnodar leben wird. Mit ihrer Familie hat sie einen Ausreiseantrag gestellt. Sie ist Russlanddeutsche und wird vermutlich im August mit Mann und Sohn nach Deutschland übersiedeln. Die Zukunft ist plötzlich ungewiss: "35 Jahre habe ich in Russland gelebt – ich kenne nichts anderes". Ihre Mutter habe einen Schlaganfall gehabt; sie schaffe die Deutschprüfung nicht. Voraussichtlich werde sie sie vorerst zurücklassen müssen.

Der Zug hält – eine Oase im Fahrplan; es ist kurz nach sieben Uhr morgens, wir sind in Gorjatschij Kljutsch – "Heißer Schlüssel". Die müden Passagiere werden mit ein paar Schritten im Freien belohnt. Nina hingegen zeigt keine Müdigkeit, sie verkauft Eis am Gleis. Das Geschäft laufe im Sommer gut, täglich hielten fünf bis sieben Züge. Sie unterscheidet sie nach ihrem Charakter: die Passagiere der Moskauer Züge seien eher arrogant, sagt sie und entschuldigt sich sogleich; jene aus den Petersburger Zügen verhielten sich herzlicher und aufgeschlossen. Geschäft aber ist Geschäft und am lukrativsten sind die Kinder, die von den Eltern ein Eis einfordern.

Dann ist die kurze Pause auch schon wieder vorbei. Zurück im Zug verschont die Müdigkeit niemanden; Olga Karatul ist wütend. "Passagiere, wer von euch hat Sonnenblumenkerne in die Toilette geworfen?" Einen Moment lang verschwindet die wohltrainierte Servicedemut; Olga schafft Ordnung. Bei einer weiteren Runde Tee stimmt eine Rentnerin ein Loblied auf Russland an, das das beste Land der Erde sei; Olga ist nicht überzeugt. Beim Blick aus dem Fenster liegt das Schwarze Meer vor uns. Bis Sotschi ist es nicht mehr weit. Das Ziel der Reise, in der Region Krasnodar gelegen, ist ein kleines Paradies: 340.000 Einwohner und einer der beliebtesten Urlaubsorte Russlands am Schwarzen Meer. Palmen, Stände mit Trockenfrüchten und Souvenirs und bunte Cafes verbreiten Urlaubsfröhlichkeit wie an der Adria. Kleine emsige Marschrutki (Sammeltaxis) bringen Touristen für 22 Rubel in die Stadt und die Außenbezirke. Sotschi soll eine der längsten Städte Europas sein, behaupten Einheimische...
Sotschi. Hier steigen die russischen Touristen aus, die mit den Kindern Urlaub machen und wenige Fußballfans. Der Zug fährt durch nach Adler, einem Vorort von Sotschi, wo das Stadion steht. Adler liegt unweit der Grenze zu Abchasien, einer Mini-Republik unklarer territorialer Zugehörigkeit, um die sich Russland und der Nachbar Georgien streiten. Defacto hat Russland die Kontrolle. Den Fans und Urlaubern sind örtliche Politzwistigkeiten einerlei, sie wollen Spiele und Strand. In geordneter Reihe ziehen sie ihre Koffer hinter sich. Olga Karatul winkt noch einmal zum Abschied.
