Es geht schon damit los, wie dieser Krieg begann. Am 24. Februar schlugen Russlands Truppen los. Unmittelbar davor war die Kriegsdrohung mit den Händen zu greifen. Für die allermeisten Europäer aber kam das Szenario aus heiterem Himmel. Gewiss, der US-Geheimdienst hatte das Zusammenziehen der russischen Truppen an der Grenze zur Ukraine längst beobachtet – aber das war kein Thema in der Öffentlichkeit.
Die frisch gewählte Ampel-Koalition war noch mit Corona beschäftigt, als auf einmal Krieg in Europa herrschte. Von da an war alles anders.
Krim-Eroberung hätte uns warnen müssen
Wer zurückblickt auf zehn Monate Krieg, sieht eine ganze Reihe von Fehleinschätzungen, die auch damit zu tun haben dürften, dass wir Westeuropäer uns einen solchen Überfall in der europäischen Nachbarschaft 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs einfach nicht mehr vorstellen konnten und wollten.
Dabei hätte uns Russlands Krim-Eroberung 2014 schon lehren müssen, dass Kreml-Chef Wladimir Putin die bestehende Machtordnung nicht zu akzeptieren bereit ist.
Handel und Gas-Importe ändern daran nichts. Dass ein Land aus imperialistischem Machtstreben einfach so die Panzer in ein anderes rollen lässt? Irgendwie passte das nicht mehr in unser Weltbild.
Falsche Vorstellungen von Putin
Wladimir Putin konnte doch nur verrückt sein. Auch so ein Irrglaube. Aber wie der Kreml-Chef bei den letzten diplomatischen Gesprächen an seinem Hyper-Distanz-Konferenztisch – aus Angst sich anzustecken? – saß, mit seinem aufgedunsenen Gesicht... Die Spekulationen um Putins Gesundheitszustand schossen schnell ins Kraut. Nicht nur physisch (ist es Leukämie?), auch geistig könnte es nicht allzu gut um ihn bestellt sein. Sein Handeln sei irrational, wurde ihm mehrfach unterstellt.
Im Nachhinein wird klar: Was Putin antreibt, mag nicht in unser Weltbild passen, in seinem aber ist das alles stimmig. Seine Vision ist es, die Macht des untergegangenen Sowjetreichs zumindest in Teilen wiederherzustellen. Imperialistisches Machtstreben ist eben doch nicht von gestern. Leider.
Geirrt hat aber auch der Mann im Kreml. Dass die russischen Truppen in den ersten Monaten solch große Verluste erlitten, kann man nur damit erklären, dass auch Putin nicht klar war, wie gut sich die Ukrainer insgeheim vorbereitet hatten.
Keine Übermacht Russlands
Die raumgreifende Angriffe auf Kiew, Charkiw und andere Städte gleichzeitig schlugen genauso fehl wie die versuchte Enthauptung der ukrainischen Regierung. Die vermeintlich riesige Übermacht Russlands blieb gewissermaßen im Schlamm stecken, litt an Versorgungsproblemen, ließ sich abschießen.
Putin lag freilich nicht mehr daneben als die meisten Beobachter im Westen auch. Auch die Schreiberin dieser Zeilen war der Meinung, dass die Aufforderung des ukrainischen Präsidenten Wolodymir Selenskyj an seine Landsleute, sich den russischen Soldaten entgegenzustellen, einem Selbstmordkommando gleichkomme.
Doch daraus sprach nur, was das ukrainische Volk tief in sich trug – und was der gelernte Komödiant Selenskyj von Anfang an verstand: Man wollte sich wehren, man sah sich im Recht und kämpfte für die gerechte Sache. Ein Umstand, der in den vergangenen zehn Monaten neben westlichen Waffen für viele Erfolge und ein beeindruckendes Durchhaltevermögen sorgte.
Auch Intellektuelle lagen daneben
Ähnlich daneben lagen etliche friedensbewegte Intellektuelle, die in der Lieferung von Waffen das große Übel sahen. Philosoph Richard David Precht war eine der Stimmen, die gegen Waffenlieferungen argumentierte, weil das nur unnötig den Blutzoll in der ukrainischen Bevölkerung in die Höhe treiben würde. Inzwischen ist wohl auch Precht klar, dass die Ukrainer diese Waffen sehr wohl zu ihrem Vorteil zu nutzen verstehen.
Auch nach 100 Tagen Krieg traute der Westen der Ukraine noch nicht allzu viel zu. Der renommierte Politikwissenschaftler Herfried Münkler äußerte gegenüber dem SÜDKURIER die Ansicht, dass die Ukraine das nicht auf Dauer durchhalten könne: „Ich glaube, dass Präsident Wolodymir Selenskyjs Erklärungen, im Sommer werde die große ukrainische Gegenoffensive kommen, eher ein Pfeifen im Walde sind. Selbst wenn die Ukraine westliche Waffen bekommt, ist unklar, ob sie die kompetent einsetzen kann.“
Eine Sommeroffensive und diverse Landgewinne im Donbass später würde Münkler das kaum mehr behaupten.
Ruhe im „Wut-Winter“
Noch mehr Fehlannahmen gefällig? Erinnern Sie sich noch an den „heißen Herbst“ und den „Wut-Winter“, die uns in schaurig-blutroten Tönen beschrieben wurden? Gemeint war die Wut der Deutschen, die angesichts von steigenden Energiepreisen auf die Barrikaden gehen würden – gegen die Energiepolitik der Bundesregierung, gegen den Russland-Boykott der EU und gegen die in Scharen nach Deutschland strömenden Ukraine-Flüchtlinge. Ist – abgesehen von einigen Demonstrationen in Ostdeutschland – praktisch ausgeblieben. Gut, das hängt auch damit zusammen, dass die Ampel-Koalition mit Geld nur noch um sich wirft und alles dafür tut, dass die Energiepreise nicht zu drückend werden.
Bemerkenswert ist jedenfalls, dass die Solidarität mit den Ukrainern bislang nicht dadurch leidet, dass inzwischen auch einige Turnhallen mit Stockbetten vollgestellt wurden. Dass Menschen vor diesem Krieg in Europa flüchten, ist uns angesichts der täglichen Bilderflut, die uns via Fernsehen erreicht, eben nur zu verständlich.
Inzwischen sind die Experten mit den Prognosen vorsichtiger geworden. Auf baldige Friedenshandlungen mag derzeit kaum einer setzen. Wenn sie wider Erwarten doch eintreten, wäre aber keiner enttäuscht, dass man mal wieder falsch gelegen hat.