Der Weiler Lützerath ist geräumt, die Debatte um Gewalt durch Polizei und Demonstranten geht weiter. Vor allem aber ist trotz des Scheiterns mit Ansage der Kampf gegen den Kohleabbau für die Aktivisten noch längst nicht vorbei.

Der SÜDKURIER hat eine Gruppe von Klimaschützern aus Konstanz und dem Bodenseekreis begleitet. Friedliche Demonstranten, doch auch eskalationsbereite Personen haben uns ihre Erlebnisse geschildert – und ihre Erwartungen an die Zukunft.

Mit dem Reisebus hin und zurück an einem Tag

Am Samstagmorgen um vier Uhr rollt ein Reisebus in Konstanz los. Ausgerüstet mit Rucksack, Wanderschuhen und viel Energie reisen 47 Klimaaktivisten aus der Region nach Nordrhein-Westfalen. Der Andrang ist so groß, dass 67 Personen aus Kapazitätsgründen nicht im Konstanzer Bus mitfahren können. Überall in Deutschland und benachbarten Ländern treten Demonstranten die Reise nach Lützerath an.

Das Szenario der pilgernden Klimaaktivisten mag vergeblich wirken, doch ihre Mission ist klar: Sie wollen laut sein und ihrem Unverständnis für den Kohle-Kompromiss Ausdruck verleihen. „Lützerath ist mehr als ein Symbol. Es ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringen könnte“, meint die 21-jährige Isabelle Lindenfelser von Fridays for Future Konstanz. „Wir dürfen das 1,5-Grad-Ziel auf keinen Fall verfehlen. Aber genau das droht hier zu passieren.“

Polizisten und Demonstranten stehen sich bei der Demonstration im Schlamm gegenüber.
Polizisten und Demonstranten stehen sich bei der Demonstration im Schlamm gegenüber. | Bild: Oliver Berg, dpa

Schon vor Beginn der Demonstration ist klar – dieser Tag wird alles andere als angenehm. Die Anfahrt ist mühsam, denn Bahnhöfe sind überfüllt, viele Züge haben Verspätung und Fahrzeuge stehen im Stau. Es trudeln immer mehr Menschen ein, die dem schlechten Wetter trotzen, um sich für den Erhalt von „Lützi“ stark zu machen. Überall taucht das gelbe X auf, das zum Symbol der Bewegung geworden ist. Während die Veranstalter von mehr als 35.000 Demonstranten ausgehen, spricht die Polizei von 15.000 Beteiligten.

Aus Versehen an der Abbruchkante gelandet

Für viele Menschen ist die Situation ungewohnt, denn es ist kein Demonstrationszug im klassischen Sinn. Von allen Seiten strömen Menschenmassen auf das Gelände zwischen Keyenberg und der Kohlegrube des Tagebaus Garzweiler II. Am Horizont ist der kleine Weiler Lützerath zu erkennen.

Auf der große schlammigen Fläche dazwischen herrscht Chaos. „An der Kante des Tagebaus war zu Beginn eine Kette aus Polizisten, doch nach kurzer Zeit haben sie sich zurückgezogen, um Lützerath wie eine Festung zu verteidigen. Ab dann war der riesige Acker einfach frei“, erzählt Kai-Peter Schlie.

Die meisten Demonstranten scheinen nicht zu wissen, welchen Bereich sie betreten dürfen. Viele Menschen begeben sich unwissentlich in Gefahr, da sie trotz des aufgeweichten Bodens nah am Abgrund stehen. Ebenso erging es der SÜDKURIER-Autorin, die erst im Nachhinein erfuhr, dass sie sich illegalerweise an der Abbruchkante und auf dem Gelände vor Lützerath aufgehalten hatte.

Auch Klimaaktivistin Greta Thunberg war in Lützerath dabei.
Auch Klimaaktivistin Greta Thunberg war in Lützerath dabei. | Bild: Henning Kaiser, dpa

Der 63-jährige Khayim Illia Perret ist Gründer der Parents for Future Konstanz. „Ich dachte, ich hätte es fast ausschließlich mit einer Jugendbewegung zu tun, aber es ist heute sehr durchmischt. Alte und junge Menschen sind gekommen, sogar Familien“, berichtet er. Hauptrednerin Greta Thunberg hören die meisten nur aus der Ferne. „Die Leute sind nicht wegen ihr gekommen“, meint Perret. „Aber ihre Rede war ein Highlight, obwohl sie relativ kurz gesprochen hat.“ Thunberg hebt die Verantwortung hervor, die Deutschland als einer der größten CO2-Verursacher weltweit habe. „Ihr seid die Hoffnung!“, ruft sie den Aktivisten zu.

Anton Schwärzler
Anton Schwärzler | Bild: Jonathan van Kempen
„Es ist kalt, bedrückend und irgendwie traurig.“
Anton Schwärzler, Student aus Konstanz

Doch nicht alle empfinden die Erlebnisse um Lützerath so bestärkend. „Das Wetter heute passt zur Stimmung“, sagt der Konstanzer Student Anton Schwärzler. „Es ist kalt, bedrückend und irgendwie traurig.“ Immer wieder bleiben Demonstranten im Schlamm stecken, einige verlieren ihre Gummistiefel. Mehrmals müssen Rettungsgassen für Krankenwagen gebildet werden.

Die Aktivisten bewegen sich durcheinander in alle Richtungen. Während ein Großteil friedlich an der Kundgebung teilnimmt, ziehen vermummte Gruppen und viele orientierungslose Demonstranten in Richtung Lützerath. Immer wieder rufen Personen dazu auf, die Polizeikette zu durchbrechen.

Jonas erzählt, warum er „in Aktion geht“

Jonas, der seinen Nachnamen nicht nennen will, war in den vergangenen Jahren bei Fridays for Future Bodensee aktiv. Am Samstag gehört er zu denjenigen, die „in Aktion gehen“, sich also bewusst der Polizei widersetzen. „Wir haben versucht, den Zaun zu durchbrechen, um nach Lützerath zu gelangen“, berichtet er. Dabei sei es zu Gewalt auf beiden Seiten gekommen. Waren diese Ausschreitungen nötig? „Ich weiß nicht, wie das alles weitergehen soll. Die friedlichen Proteste haben in den vergangenen Jahren nicht genug erreicht“, meint Jonas.

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Julia Walter aus Markelfingen ist mit den Parents for Future auf der Demonstration unterwegs, an der auch jugendliche Kinder der Mitglieder teilnehmen. Sie spricht von der doppelten Angst der Eltern: „Die Sorgen um die Kinder durch Polizeigewalt kommen mit denen über die Klimakrise zusammen, welche ihre gesamte Lebensgrundlage gefährdet.“

Sie wünsche sich eine friedliche Demonstration, könne aber die Wut vieler Aktivisten verstehen. „Es ist die Wut, dass unsere Politiker Konzerninteressen über das völkerrechtlich bindende Pariser Klimaschutz-Abkommen stellen und auch die Interessen der jetzigen Generation höher bewerten als die zukünftiger“, meint sie.

Die Abrissarbeiten am ehemaligen Haus des letzten Bauern von Lützerath sind bereits in vollem Gang.
Die Abrissarbeiten am ehemaligen Haus des letzten Bauern von Lützerath sind bereits in vollem Gang. | Bild: FEDERICO GAMBARINI, dpa

Abends fährt der Bus zurück nach Konstanz. Einige Aktivisten, darunter Isabelle Lindenfelser, bleiben zurück. „Für mich war die Nacht im Ausweichcamp sehr wichtig“, erzählt sie. „Dort wurde ich daran erinnert, was ich mit der Aktion um Lützerath verbinde – ein bedürfnisorientiertes und solidarisches Miteinander.“ Vor Ort habe es warmes Essen und auch mentale Hilfsangebote für die Demonstranten gegeben.

Sicherheit der Demonstranten nicht gewährleistet?

Aktivisten werfen der Polizei vor, sie habe die Sicherheit der Demonstranten nicht gewährleisten können und teilweise unnötige Gewalt mit Schlagstöcken, Wasserwerfern und Pfefferspray ausgeübt. Davon berichten auch viele der Konstanzer Aktivisten, die das Geschehen aus sicherer Entfernung beobachtet haben.

Diese Anschuldigungen werden derzeit noch geprüft, wie NRW-Innenminister Herbert Reul klarstellte. „Wenn ein Polizist Fehler macht, dann bekommt er ein Problem, das ist nämlich so in einem Rechtsstaat“, räumte der CDU-Politiker am Sonntag in der ARD-Sendung „Anne Will“ ein. Seit Beginn der Räumung am Mittwoch wurden nach Angaben der Polizei auch mehr als 70 Polizisten verletzt, die im Schlamm umknickten oder in Kontakt mit gewaltbereiten Aktivisten kamen. Diese sollen Einsatzkräfte mit Steinen und Pyrotechnik beworfen haben.

Ein Demonstrant durchbricht eine Polizeibarriere in der Nähe von Lützerath.
Ein Demonstrant durchbricht eine Polizeibarriere in der Nähe von Lützerath. | Bild: Ina Fassbender, AFP

Am Sonntag treffen sich die Demonstranten in Konstanz, um ihre Erlebnisse zu reflektieren. Die Gewalt beider Seiten verurteilen sie, da diese zu einer sehr destruktiven Situation geführt habe. „Wir wünschen uns sachlichen Diskurs und waren enttäuscht, dass vor Ort keine politische Vertretung zu uns gesprochen hat“, halten die Konstanzer fest.

Isabelle Lindenfelser
Isabelle Lindenfelser | Bild: Jonathan van Kempen
„Der Widerstand wird nicht aufhören und vielleicht haben uns diese Tage noch mehr zusammengebracht.“
Isabelle Lindenfelser, Fridays for Future Konstanz

Inzwischen ist der Polizeieinsatz in Lützerath beendet. Auch die letzten beiden Personen, die mehrere Tage in einem Tunnel unter dem Dorf ausharrten, haben den Ort am Montag verlassen. Wie geht es jetzt weiter?

„Der Widerstand wird nicht aufhören und vielleicht haben uns diese Tage noch mehr zusammengebracht“, hofft Isabelle Lindenfelser. „Solange die Kohle in der Erde ist, besteht Hoffnung, dass Deutschland das Ruder herumreißt und doch noch das Pariser Klimaschutz-Abkommen einhält“, meint Julia Walter.

Auch wenn viele durch die schnelle Räumung bedrückt sind, blicken die Aktivisten entschlossen in die Zukunft. „Unabhängig davon, ob Lützi bleibt, ist es ein krasses Zeichen für die Klimaschutzbewegung“, findet Kiki Köffle. „Ich gebe Greta Recht – Deutschland wollte sich immer als Vorreiter im Klimaschutz profilieren. Aber die Bilder, die heute um die Welt gehen, erzeugen einen komplett anderen Eindruck.“

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Ricarda Lang, Bundesvorsitzende der Grünen, verteidigt bei „Anne Will“ den Kohle-Kompromiss ihrer Partei. „Für mich war das gestern ein ambivalenter Tag. Denn auf der einen Seite demonstrierten die Aktivisten für etwas, für das ich mich schon lange einsetzte – für den Kohleausstieg. Auf der anderen Seite stehe ich plötzlich nicht mehr dabei“, erklärt sie. Lang verkündet aber auch: „Wie viel der Kohle unter Lützerath gebraucht wird, entscheidet sich in den Jahren nach der Energiekrise. Und wir werden alles dafür tun, dass so wenig wie möglich abgebaggert wird.“

Die Klimaaktivisten werden sich mit Kompromissen nicht zufrieden geben, davon ist auszugehen. Für die kommenden Tage sind weitere Proteste geplant.