Wer außerhalb Russlands könnte noch daran zweifeln, dass die Invasion der Ukraine im Februar 2022 eine irrsinnige Fehlentscheidung Putins war? In ihrer fundamentalen Unwissenheit dem Nachbarland gegenüber – von zahllosen Experten des Westens zunächst freilich unisono geteilt. Selbstzerstörerisch auch für den Herrscher persönlich und seine so stringent aufgebaute Macht über Russland; der Tod für Hunderttausend russische Soldaten, die Frauen, Kinder, Mütter, Schwestern haben; ein unaufhaltsamer gesellschaftlicher Ruin: der Abstieg des Landes ins Abseits.
Die Frage ist: Sieht Putin selbst sein Versagen und Scheitern als Staatsführer denn nicht? Ungeachtet aller kaum mehr auszugleichender oder gar umkehrbarer Rückschläge auf dem Schlachtfeld immer noch nicht – und hört deshalb nicht auf? Das wäre dann eine Geistesarmut, die sich nur aus dem Kontext sowjetischer plus großrussischer Gewaltherrschaft erschlösse. Aus der steinalten, nie wirklich ausgehebelten Idiotie des Imperiums.
Oder weiß auch Präsident Putin längst, dass er dabei ist, diesen Krieg zu verlieren – und hört gerade deshalb nicht auf? Das hört sich eigentlich plausibler an, menschenähnlicher, und wäre doch noch erschreckender. Diese Deutung brächte uns auch auf die Frage nach den niemals öffentlich dargelegten realen Beweggründen für das deutsche Zögern bei kriegsentscheidenden Waffenlieferungen an die Ukraine. Es ist das – oder war es, hoffentlich – eine Politik, die das Ansehen und die Vertrauenswürdigkeit unseres Landes in der EU und in der Nato beschädigt hat. Und der darüber hinaus auch eine Mitverantwortung für nicht wenige Tote, Soldaten wie Zivilisten, in der Ukraine anzulasten ist.

Die Angst vor der Unberechenbarkeit eines in die Enge getriebenen Putin ist gewiss nachvollziehbar. Als ausschlaggebendes Motiv des Regierungshandelns wird sie aber unweigerlich zu einem Signal der Nachgiebigkeit und des Zurückweichens an die Adresse des Aggressors. Wenn die alptraumhafte Drohkulisse eines Atomwaffeneinsatzes Russlands am Einspruch selbst von Staaten wie China und Indien auch in sich rasch zusammengefallen war, so scheinen doch neue Sorgen nachwachsen zu wollen: Was passiert mit Russland, wenn Putin verschwinden sollte? Was würde es für den Westen bedeuten, wenn das riesige Russland in Stücke zerfiele – unter der Kontrolle von Warlords? Formiert sich hier im Stillen – nicht nur in Berlin, sondern auch in Washington – schon der Gedanke, dass Putin und sein Regime einfach nicht untergehen dürfen: der „niederträchtige Massenmörder“, wie der Russland-Kenner Karl Schlögel ihn nennt, unverzichtbar für die Stabilität der Welt?
Dieser resignativen Sorte von Realpolitik gegenüber, in der die Zukunft Russlands – als Land, als Gesellschaft, als Zivilisation – gar nicht mehr vorkommt, könnten wir uns an das eigene Beispiel erinnern. Es war allein die totale Niederlage Hitler-Deutschlands im Zweiten Weltkrieg, die der Bundesrepublik die Möglichkeit verschafft hat, eine Demokratie zu werden. Mit der Zeit. Mit den Jahren auch eine Demokratie mit der Fähigkeit zu trauern. Übertragbar ist das nicht. In Russland dürfte alles anders sein.
Der Verfasser war Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz