Es ist ein wenig wie mit dem gefloppten Tankrabatt, der den Ölkonzernen am Ende nur noch größere Gewinne beschert: Keiner will es gewesen sein. Doch mit dem 9-Euro-Ticket hat der Bund eigentlich etwas Gutes in Gang gebracht: Mehr Menschen steigen auf den ÖPNV um. Davon profitieren alle, die es nutzen. Dazu gehören auch die Kinder von Hartz-IV-Empfängern, die normalerweise zusätzliches Geld vom Jobcenter für das Schülerticket bekommen.
In Baden-Württemberg soll dieses Geld, normalerweise ein mittlerer zweistelliger Betrag, je nach Entfernung zur Schule, nun aber auf neun Euro reduziert werden. Vielerorts ist nach Angaben des Wirtschaftsministeriums bereits für den Monat Juni weniger ausgezahlt worden, wie ein Sprecher auf Nachfrage bestätigt. Nur in wenigen Einzelfällen würden Nachforderungen gestellt. Das Vorgehen löste bundesweite Kritik aus.
Das Sozialministerium verweist auf das „federführende“ Wirtschaftsministerium in Stuttgart. Dort fühlt man sich missverstanden. Das Ministerium selbst habe nie eine entsprechende Weisung ausgegeben, zumal dies gar nicht in seiner Macht liege. Vielmehr hätten die Jobcenter um eine rechtliche Einschätzung gebeten, die Sozial- und Wirtschaftsministerium – unter der Führung von Manfred Lucha (Grüne) und Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) – dann gemeinsam ausgaben. Mit dem Ergebnis, dass weniger ausgezahlt werden solle für die Schülertickets.

Bundessozialministerium nicht einverstanden
Aus dem SPD-geführten Bundessozialministerium von Hubertus Heil folgt die Kritik auf dem Fuße, die Stellungnahme liegt dem SÜDKURIER vor: Demnach habe sich das Bundesministerium „frühzeitig dafür ausgesprochen, Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket für die Schülerbeförderung trotz 9-Euro-Ticket nicht von den Familien zurückzufordern“, teilt eine Sprecherin mit.
Dies sei „nicht nur sozialpolitisch sachgerecht, sondern lässt sich auch rechtlich aus den Regelungen des Sozialgesetzbuches II herleiten“.
Darüber hinaus entstehe den Jobcentern „erheblicher Verwaltungsaufwand, den die betroffenen Familien weder verursacht noch beabsichtigt haben“. Man werde die Bundesländer auffordern, diese Rechtsauffassung zu berücksichtigen, hieß es.

Land beruft sich auf Rechtsaufsicht
In Stuttgart lässt man sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Da es sich um kommunale Leistungen handle, die der Rechtsaufsicht der Länder unterstellt seien, seien die Äußerung des Bundes „nicht maßgeblich“, so der Sprecher.
Das Wirtschaftsministerium verweist dagegen auf den Rechtsbegriff der ungerechtfertigten Bereicherung, wonach Zahlungen, die ohne rechtliche Grundlage erfolgen, zurückgezahlt werden müssten.
Den Familien entstehe zudem kein finanzieller Schaden, vielmehr sei das 9-Euro-Ticket ein Gewinn, da damit weitere Strecken gefahren werden könnten als mit dem Schülerticket. Zudem profitierten Menschen in der Grundsicherung generell von dem 9-Euro-Ticket und hätten so mehr Geld für andere Ausgaben.
Über den Mehraufwand, den dies für die Jobcenter bedeuten dürfte, könne das Wirtschaftsministerium keine Aussage treffen, hieß es auf Nachfrage aus Stuttgart.
Sozialdemokraten aus der Region empört
Für seinen Kurs erntet das Ministerium nicht nur vom Bundesministerium Kritik. „Wie kaltherzig, bürokratisch und völlig empathielos hier mit armen Familien umgegangen wird, ist einfach schäbig und eines Sozialstaats unwürdig“, echauffiert sich etwa Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands.
Mehr noch: „Wer wie das baden-württembergische Wirtschaftsministerium im Falle einer Nicht-Rückzahlung von einer ‘ungerechtfertigten Bereicherung‘ spricht, hat offenbar jeglichen Bezug zu Realitäten verloren und will offensichtlich Neiddebatten schüren.“

Was halten die Sozialdemokraten aus der Region von diesem Verhalten? Die SPD-Bundestagsabgeordnete Lina Seitzl hält mit ihrer Kritik nicht hinterm Berg. „Bundesminister Hubertus Heil hat darum gebeten, davon abzusehen (Hartz-IV-Familien die Beiträge um die Ersparnis durch das 9-Euro-Ticket im Vergleich zum Schülermonatsticket, zu kürzen – A.d.R.). Dass sich Baden-Württemberg dagegen entscheidet, halte ich für skandalös.“
Die Konstanzerin hält dies „für eine falsche Entscheidung, die eine Neiddebatte“ anstoße – „in einer Situation, in der Familien mit wenig Geld ohnehin schon zu kämpfen haben“, ergänzt sie mit Blick auf die hohe Inflation und steigende Lebensmittelpreise. Hinzu komme der Aufwand für die Jobcenter: „Daran erkennt man, dass es gar nicht darum geht, Geld zu sparen, sondern um reine Prinzipienreiterei.“

Auch der SPD-Landtagsabgeordnete Hans-Peter Storz teilt diese Ansicht und spricht von einem „unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwand“. Er plädierte dafür, den bedürftigen Familien „in dieser Extremsituation mit hohen Inflationsraten“ ein paar Euro mehr zu gönnen.
Aus dem Wirtschaftsministerium kommt wenig Anlass zur Hoffnung: Die Rechtshinweise wolle man nicht ändern, hieß es.