Herr Professor Gestwa, vor einem Monat ist die russische Armee in der Ukraine einmarschiert. Kann Präsident Putin den Krieg noch gewinnen?

Im Augenblick herrscht dort eine Pattsituation. Putin hatte einen Blitzkrieg geplant, er wollte in zwei Tagen in Kiew sein, von der Bevölkerung empfangen mit Blumen, Brot und Salz. Das hat nicht funktioniert. Die Fronten haben sich festgefahren. Am Boden kommt er kaum mehr weiter. Die ukrainische Armee setzt immer wieder Nadelstiche, sie hat einige Gebiete wieder zurückgewonnen, unter anderem in Kiew und in Mykolajiw im Süden des Landes. Dort mussten sich die russischen Verbände zurückziehen. Momentan sieht es nicht danach aus, dass Putin noch gewinnen könnte. Deshalb geht er in seiner Verbitterung und Verrohung dazu über, mit seinen Flugzeugen und Raketen die Städte und die zivile Infrastruktur in Schutt und Asche zu legen.

Warum kommt die russische Armee so langsam voran?

Auf der einen Seite ist die Ausrüstung technisch deutlich zurückgeblieben. Der zweite Grund ist eine falsche Strategie. Die Logistik funktioniert überhaupt nicht. Viele Verbände der russischen Invasionsarmee waren zwar schon länger im Feld und haben an Manövern in Belarus teilgenommen. Aber sie haben versäumt, die Feldwerkstätten mitzunehmen, um ihre Fahrzeuge instandzuhalten. Deshalb liegen so viele russische Militärfahrzeuge am Straßenrand. Hinzu kommt, dass die russische Armee schon sehr viele Opfer zu verzeichnen hat, darunter hochrangige Offiziere wie den stellvertretenden Kommandeur der Schwarzmeerflotte. Die vielen Toten und Verletzten führen dazu, dass es um die Kampfmoral der russischen Truppen nicht gut bestellt ist.

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Hätten Sie mit der Stärke des ukrainischen Widerstands gerechnet?

Nein. Mir war schon klar, dass sich die ukrainische Armee in den vergangenen acht Jahren, seit der Annexion der Krim und der Aggression im Donbass-Gebiet, deutlich besser aufgestellt hatte. Die Aufrüstung ist aber nicht das Entscheidende, sondern der enorme Widerstandswille, militärisch und zivil. Die Menschen wollen nicht Teil der russischen Welt werden, die von Putin dominiert wird. Für sie sind Souveränität und Demokratie keine abstrakten Werte, sondern Versprechen auf Wohlstand, Frieden und Zukunft. In den besetzten Städten und Dörfern kommen ältere Frauen und Männer auf die Straße, stellen sich vor die Panzer und sagen den russischen Soldaten, dass sie hier nichts zu suchen haben. Das untergräbt jede Kampfmoral.

Professor Klaus Gestwa, seit 2009 Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Universität Tübingen
Professor Klaus Gestwa, seit 2009 Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Universität Tübingen | Bild: Christopher Kuebler

Warum hat die russische Führung das nicht gesehen? Haben Putins Geheimdienste denn geschlafen?

Die Entscheidung zum Krieg ist von einer einzigen Person getroffen worden – und das ist Wladimir Putin. Seine militärische Taktik ist von Wunschdenken geprägt. Er hat völlig ignoriert, dass die Ukraine in den letzten acht Jahren als Land nach der Zerreißprobe, die durch die russische Aggression entstanden ist, zu sich gefunden hat. Ich bin sicher, dass die russischen Geheimdienste auf diese veränderte Stimmung hingewiesen haben. Aber vermutlich sind sie mit ihren Warnungen nicht bis zu Putin durchgedrungen. Er hat sich in den letzten zwei Jahren immer mehr isoliert. Alexej Nawalny hat ihn zu Recht als „vereinsamten Opa im Bunker“ bezeichnet.

Kann sich Putin auf sein Umfeld noch verlassen?

Das ist die entscheidende Frage. Man sieht es ihm an, wie groß die Verbitterung und die Verunsicherung bei ihm ist. Einige Oligarchen sind auf Distanz gegangen. Auch Anatoli Tschubais, einer der großen Reformer der 90er-Jahre, der noch lange zu Putin gehalten hat, ist vor wenigen Tagen ins Ausland gegangen. Die Geheimdienste greifen sich gegenseitig an; auch im Militärapparat hat die Suche nach Sündenböcken begonnen. Da braut sich etwas zusammen. Man weiß nur nicht, wohin das führen wird.

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Sie halten es für realistisch, dass Putin stürzt?

Wir denken uns die Zukunft immer mit Putin. Ich halte die Entputinisierung Russlands für eine momentan mögliche Option. Die würde ich nicht außen vorlassen. Wir müssen uns über eines klar sein: Solange Putin im Kreml ist, wird Europa, wird die Welt keine Ruhe und keinen Frieden finden.

Putin galt bei manchen im Westen anfangs als Reformhoffnung, er sprach im Bundestag. Hat er sich erst im Lauf seiner Amtszeit so radikalisiert? Oder war das von Anfang an in ihm angelegt und wir haben es nur nicht gesehen?

Die Fachwelt war von Anfang an überwiegend kritisch gegenüber Putin eingestellt. Er kam zwar aus dem Umfeld von Anatoli Sobtschak, einem der großen Reformer der 90er-Jahre. Aber er hatte gleichzeitig seinen Hintergrund im Geheimdienst. Das hat uns immer große Sorgen gemacht. Der große Demokrat war Putin nie. Die Art, wie er Politik macht, ist stark durch den Geheimdienst geprägt – die Schwäche des Gegners erkennen und dann reinhauen.

Wie weit kann man denn mit Putin verhandeln? Ist die Hoffnung auf eine Friedenslösung unter Gesichtswahrung, von der manche sprechen, realistisch?

Putin hat mit seinem Truppenaufmarsch im Dezember die Ukraine in Geiselhaft genommen, um die USA und die Nato mit seinen Vertragsentwürfen zu erpressen. Die USA und die Nato haben das im Januar zu Recht zurückgewiesen und einen gesichtswahrenden Ausweg aufgezeigt. Auch der ukrainische Präsident Selenskyj ist vor Kriegsbeginn immer wieder an den Kreml herangetreten und hat darum gebeten, sich zusammenzusetzen und eine friedliche Lösung zu suchen. Den gesichtswahrenden Ausweg hat es für Putin schon vor dem Krieg gegeben. Er hat ihn nur nicht genommen.

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Und jetzt, nach mehr als vier Wochen Krieg? Welchen Spielraum sehen Sie für Verhandlungen, vorausgesetzt Putin lässt sich angesichts seiner militärischen Probleme darauf ein?

Selenskyj hat angedeutet, dass man einige strittige Punkte ausräumen kann, zum Beispiel den Status der Krim oder die Frage, wie man mit den beiden abtrünnigen Volksrepubliken umgeht. Die rote Linie für Selenskyj ist, dass die Ukraine als souveräner und demokratischer Staat weiterbestehen muss. Das muss auch die rote Linie der europäischen und internationalen Politik sein. Putin hat aber diese typische Großmacht-Arroganz. Er will sich nicht mit dem kleinen Selenskyj an einen Tisch setzen. Seine Vorstellungen hat er im Juni 2020 schriftlich formuliert. Was er will, ist ein neues Jalta. Da sitzen dann Joe Biden, Macron, Boris Johnson, Xi Jinping aus China und er zusammen und teilen die Welt unter sich auf. Das funktioniert aber nicht, weil die Ukraine kein Objekt ist, sondern ein Subjekt der internationalen Politik und mitzureden hat.

Wie kann es jetzt weitergehen?

Im Augenblick ist es so, dass Putin mauert. Alles hängt an ihm. Es lässt sich noch nicht erkennen, dass er sich auf eine Art Ermattungsfrieden einlässt. Seine militärischen Ressourcen sind aber schon vielfach aufgebraucht. Er mobilisiert jetzt alles, was noch verfügbar ist. Am 1. April kommen neue Rekruten in die russische Armee, aber diese kann man nicht nach 14-tägiger Ausbildung gleich an die Front werfen. Deshalb wirbt Putin jetzt Söldner in Syrien und Tschetschenien an und setzt auf Demonstrationseffekte wie die angebliche Hyperschallrakete. Mittlerweile lässt er sogar Bomben auf das Theater in Mariupol oder das Einkaufszentrum in Kiew werfen. Damit will er ein Exempel statuieren, um die Ukraine zu einem Frieden nach seinen Bedingungen zu zwingen.

Wie groß ist die Gefahr, dass der Krieg gegen die Ukraine zu einem Krieg gegen den Westen wird?

Da bin ich mittlerweile etwas beruhigter. Die militärischen Ressourcen Russlands sind wegen der Ukraine so aufgebraucht, dass einfach die Schlagkraft fehlt, gegen weitere Länder vorzugehen. Und selbst wenn die russische Armee den Krieg gewinnen sollte: Wie will Russland in der Ukraine ein Besatzungsregime aufrecht erhalten gegen eine Bevölkerung, die offensichtlich nicht unter Putins Herrschaft leben will? Und das in einem Land, das größer ist als Deutschland.

Halten Sie es für möglich, dass Putin zu Atomwaffen greift, wenn er vollends mit dem Rücken zur Wand steht?

Ich glaube nicht, dass er die Atombombe einsetzen wird, vor allen Dingen nicht gegen die Nato. Er weiß genau: Wer als Erster nuklear schießt, stirbt als Zweiter. Ich vermute, dass es in seinem Umfeld noch genügend Leute gibt, die ihn daran erinnern.