Ein Schock war der Erfolg der AfD bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern nicht. Das Wahlergebnis kam nicht unerwartet. Aber der Betroffenheit und Ratlosigkeit in ganz Deutschland kann sich dennoch niemand entziehen. Es sei denn, man wolle sich über das krasse Votum von knapp 21 Prozent der Stimmen erheben und seine Zuflucht zu Anmaßung und Wählerschelte nehmen. Dann müsste man sich ein neues Volk erfinden, um das salzige Wort von vorgestern aufzuwärmen.
Die Frage ist: Wie können diese Wähler für das Spektrum der demokratischen Parteien zurückgewonnen werden? Eine andere Frage scheint daneben etwas zu kurz zu kommen: Warum bündeln so viele Menschen in Deutschland ihre Besorgnis über die zunehmende Unberechenbarkeit der materiellen Existenz, des Lebens, der sozialen Zukunft im Zeitalter der Globalisierung in der Flüchtlingsfrage? Egal, ob sie selber, persönlich, konkret, im Alltag unter den Flüchtlingen zu leiden haben oder noch kaum in Berührung mit den Fremden gekommen sind? Was ist das für eine Art von Reduktion, schrecklicher Vereinfachung, Vertauschung, „Symbolpolitik“?
Die Medien betreiben diese kurzschlüssige Fokussierung reichlich. Von der Politik ganz zu schweigen. Aber das lassen wir hier einmal beiseite. Den ganzen lauten, allgegenwärtigen öffentlichen Diskurs und Deutungsaufwand, der den Flüchtlingsstrom von 2015 festhält, hochhält als dramatischen, um nicht zu sagen überwältigenden Ausdruck unserer Zeit, unserer Weltlage, schieben wir weg. Damit wir den individuellen Bürger in seiner Wahlentscheidung, in seiner Wahlkabine, mit seinem Wahlzettel und Stift überhaupt erst einmal in den Blick bekommen.
Diese Isolierung ist nicht künstlich und abstrakt. Im Gegenteil: Wir brauchen sie und sollten sie vornehmen, wenn wir den einzelnen Bürger nicht im Treibsand allgemeiner Stimmungslagen oder politischer Strömungen verschwinden lassen, ihn nicht zum Teilchen, zum gesichtslosen, unsichtbaren Atom in der Knetmasse unserer Massenmedien und heiß gelaufenen parteipolitischen Propagandamaschinen degradieren wollen. Nicht zum haltlosen Mitläufer deklassieren.
Was also macht dieser Mensch, diese Person mit sich selbst in diesem Entscheidungsprozess, den unserer Gemeinwesen als fundamental betrachtet? Unser Bürger wäre nicht präsent, er entschlösse sich kaum zum Akt der Stimmabgabe, wenn er an dieser Grundlage nicht auch selber noch festhielte. Nicht als ein Apostel demokratischer Grundwerte. Eher weil er sich nicht selber noch kleiner machen will, als er sich ohnehin schon fühlt. Weil das Linsengericht des Wahlrechts auch in seinen Augen immer noch besser ist als nichts. Daher also noch einmal unsere Frage an ihn: Warum verabsolutieren Sie die Flüchtlingsfrage zur schicksalhaften Kernfrage der Gegenwart? Warum sagen Sie nicht direkt und unverschlüsselt, was Sie im Tiefsten beunruhigt? Sollte es der vielschichtige Kontrollverlust sein, den Sie wie viele andere heute für sich selbst, für Ihre Kinder, aber auch für unser Land und unseren Staat wahrnehmen oder fürchten – warum sagen Sie es nicht? Warum verstauen und verstecken Sie es in der Flüchtlingsfrage?
Der Verfasser lebt und arbeitet als Historiker in Konstanz.