Vor fast genau zwanzig Jahren bin ich Recep Tayyip Erdogan zum ersten Mal begegnet. Kurz vor dem Beginn seiner Haftstrafe im März 1999 rief er die internationale Presse in Istanbul zusammen, um die ausländischen Journalisten in der Türkei auf die Absurdität seiner Verurteilung wegen einer unbotmäßigen Rede aufmerksam zu machen.

Recep Tayyip Erdogan: 1998 ist er Bürgermeister von Istanbul, als er zu zehn Monaten Haft verurteilt wird. Bild: dpa
Recep Tayyip Erdogan: 1998 ist er Bürgermeister von Istanbul, als er zu zehn Monaten Haft verurteilt wird. Bild: dpa | Bild: Mehmet_Gulbiz

Bei dem Treffen in einem osmanischen Palais am Bosporus saß ich neben Erdogan, der damals Istanbuler Oberbürgermeister war. Wir plauderten über Fußball; Erdogan hatte sich kurz zuvor bei einem Spiel den Arm verletzt. Mehr als zwei Jahrzehnte lang habe ich den Aufstieg Erdogans zum mächtigsten Mann der Türkei beobachtet. Jetzt duldet mich seine Regierung nicht mehr als Berichterstatter.

Wie sich die Türkei verändert hat

Als Journalist habe ich miterlebt, wie sich die Türkei in dieser Zeit verändert hat. Den 2007 von Rechtsextremisten ermordeten türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink erlebte ich als Kämpfer, als er von Nationalisten auf einem Gerichtsflur tätlich angegriffen wurde und seinen Gegnern furchtlos entgegentrat. Der Umgang des Staates mit Andersdenkenden war die ganzen Jahre über ein Dauerthema.

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In den ersten Jahren am Bosporus berichtete ich darüber, wie die Polizei mit Wasserwerfern junge Studentinnen vom Platz fegten, weil sie im islamischen Kopftuch in die Universität wollten. Fünfzehn Jahre später trafen die Wasserkanonen die Demonstranten vom Gezi-Park.

Im Sommer 2013 kommt es zu Demos gegen ein Bauprojekt im Gezi-Park nach einem gewaltsamen Polizeieinsatz. Bild: dpa
Im Sommer 2013 kommt es zu Demos gegen ein Bauprojekt im Gezi-Park nach einem gewaltsamen Polizeieinsatz. Bild: dpa | Bild: Ulas Yunus Tosun

Ich erlebte, wie das Land in der Reformphase unmittelbar nach dem Regierungsantritt von Erdogans AKP im November 2002 begann, mit der eigenen autoritär-obrigkeitsstaatlichen Tradition zu brechen, wie die Todesstrafe abgeschafft, die Machtrolle der Militärs zurückgedrängt und die Zivilgesellschaft gestärkt wurde.

So nahe und doch so fremd

Genauso war ich dabei, als die EU den Türken die kalte Schulter zeigte, der Reformschwung erlahmte und die „alte Türkei“ der Verbote und Tabus wieder die Oberhand gewann. Mein Freund und Kollege Aydin Engin, ein Veteran des türkischen Journalismus, der schon beim Militärputsch von 1980 nach Deutschland floh und zusammen mit Joschka Fischer in Frankfurt als Taxifahrer arbeitete, wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.

In den goldenen Jahren des türkischen Wirtschaftsbooms interviewte ich ehrgeizige junge Deutsch-Türken, die aus der Bundesrepublik in das Land ihrer Eltern strömten, weil sie in Istanbul, Ankara oder Izmir eine bessere Zukunft für sich sahen als in Deutschland.

Nach dem Putschversuch 2016 und der Gewalt, mit der Erdogan reagierte, waren deutsche Exporteure abgeschreckt. Bild: dpa
Nach dem Putschversuch 2016 und der Gewalt, mit der Erdogan reagierte, waren deutsche Exporteure abgeschreckt. Bild: dpa | Bild: Bernd Wüstneck

Für die Türkei ist Deutschland ein ganz besonderes Land. Über die Waffenbrüderschaft der beiden Nationen im Ersten Weltkrieg wissen in der Türkei selbst die Schulkinder Bescheid, in Deutschland nur Historiker. Fast jeder Türke hat irgendeine Verbindung zur Bundesrepublik.

Im Auf und Ab der Jahre ging es für mich als Korrespondenten nie um Türkei-Lobhudelei oder Türkei-Schelte. Es ging ums Erklären, denn es gibt kein anderes Land auf der Welt, das den Deutschen so nahe und doch so fremd ist. Das ist die aufregende, faszinierende und manchmal auch frustrierende Arbeit des Türkei-Korrespondenten.

Eine andere politische Kultur

Denn wenn ich für meine Leser zum Beispiel aufdröselte, warum Erdogan ist, wie er ist, und dass die Gründe für sein Verhalten in seiner Biographie und in der politischen Kultur seines Landes zu suchen sind, dann wurde ich hin und wieder als Apologet kritisiert. Wenn ich beschrieb, warum sich viele Kurden in der Türkei als Bürger zweiter Klasse fühlen, dann galt ich bei manchen als Freund der Terrororganisation PKK.

Damit muss man leben. Bis vor kurzem konnte ich immerhin fest davon ausgehen, dass der türkische Staat an einer differenzierten Darstellung des Landes in der internationalen Öffentlichkeit interessiert sei. Fünfzehn oder mehr Jahre lang war die jährliche Erteilung der Arbeitsgenehmigung für ausländische Reporter in der Türkei reine Formsache.

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Seit einigen Jahren versucht Ankara jedoch, die Akkreditierung als Druckmittel gegen deutsche Journalisten einzusetzen. So mussten der „Spiegel“-Korrespondent Hasnain Kazim, Frank Nordhausen von der „Frankfurter Rundschau“ und Rafael Geiger vom „Stern“ die Türkei verlassen, weil ihnen die Akkreditierung vorenthalten wurde. Sie waren bei der Regierung in Ungnade gefallen.

Nun verweigert die Türkei dem ZDF-Kollegen Jörg Brase, Halil Gülbeyaz vom NDR und mir die Arbeitserlaubnis. An uns soll ein Exempel statuiert werden: Schickt einen anderen Journalisten als Thomas Seibert, lautete das unmoralische Angebot aus Ankara. Ihr Ziel, deutsche Medien zu kontrollieren, wird die türkische Regierung damit nicht erreichen – im Gegenteil.

Das türkische Tal der Ahnungslosen

  • Keine Rede vom Rauswurf: Die Türkei wirft deutsche Journalisten aus dem Land, die deutsch-türkischen Beziehungen steuern auf eine neue Krise zu – doch in den allermeisten türkischen Zeitungen und Fernsehsendern findet das Thema nicht statt.
  • Kommunalwahlkampf: Die Titelseiten und die Nachrichtensendungen wurden am Montag vom türkischen Kommunalwahlkampf bestimmt. Darin drohte Präsident Recep Tayyip Erdogan der Oppositionspolitikerin Meral Aksener, sie ins Gefängnis werfen zu lassen. Die nationalistische Politikerin hatte dem Staatsoberhaupt vorgehalten, er verunglimpfe Millionen von Wählern regierungskritischer Parteien als Terroristen.
  • Demo zum Weltfrauentag: Ein großes Thema war auch Erdogans Vorwurf, die Demonstrantinnen hätten während des Protestzuges den Gebetsruf des Muezzin von einer nahen Moschee mit Pfiffen übertönt. Die Demonstrantinnen seien „Feinde des Gebetsrufes“, lautete deshalb eine Schlagzeile der regierungstreuen Zeitung „Star“.
  • Kontrolle über Medien: Berichte über das neue Zerwürfnis mit Deutschland suchten die Leser vergeblich; lediglich einige der wenigen verbliebenen Oppositionsmedien befassten sich damit. Die Kontrolle der Regierung über die Medien funktioniert inzwischen so gut, dass die meisten türkischen Normalbürger nicht wissen, was sich im Verhältnis zwischen Ankara und Berlin gerade abspielt. (güs)