Das Erdogan-Regime führt nach dem Putschversuch massenhafte politische Säuberungen in der gesamten türkischen Gesellschaft durch. Sie müssen von langer Hand geplant sein. Wenn die EU den türkischen Herrscher jetzt ermahnt, in seiner Reaktion auf den fehlgeschlagenen Militärputsch nicht zu weit zu gehen und den Rechtsstaat nicht zu verletzen, so unterschlägt sie diese Dimension. Sie unterschlägt den eigentlichen Charakter der laufenden Repressionsmaßnahmen in der Türkei. Brüssel und auch Berlin tun so, als drohe im Partnerland so etwas wie eine exzessive, „unverhältnismäßige“, rachsüchtige Abrechnung mit den Putschisten. Die Entlassungs- und Verhaftungswelle hat aber nichts mit dem Putsch zu tun. Sie nutzt ihn nur aus. Man gibt sich ernsthaft besorgt um den Rechtsstaat in der Türkei. Aber gibt es diesen vielbeschworenen Rechtsstaat denn überhaupt noch?
Tausende Richter, Staatsanwälte, Lehrer auf einen Schlag entlassen – unter dem fadenscheinigen Verdacht, den Putsch unterstützt zu haben oder hinter dem Prediger Fethullah Gülen zu stehen, dem schattenhaften, von Amerika aus agierenden Staatsfeind Nr. 1. Wo wäre da noch ein Rechtsstaat, der groß demontiert werden könnte? Es gibt unbestreitbar eine Demokratie in der Türkei. Präsident Erdogan ist frei gewählt. Das ganze Land und alle politischen Parteien haben sich in Moment der Gefahr hinter ihn gestellt. Sein Machtsystem ist keine Diktatur im Wortverstande. Auch wenn sich die Meinungs- und Pressefreiheit systematisch angegriffen sieht.
Die andere Demokratie
Demokratie – eine Demokratie, die immer noch nicht bloß Fassade, nicht bloß eine politische Inszenierung der Macht ist – kann es auch ohne verbürgte Grundrechte, ohne Rechtsstaat geben. In Deutschland weiß man das seit der Abwahl der Weimarer Republik. Demokratie ohne Rechtsstaat hat es auch unter Slobodan Milosevic in Serbien gegeben. Sie hat dort Aggressionskrieg, „ethnische Säuberungen“ und Völkermord ermöglicht und getragen. In diese Reihe gehört auch die jüngste Verwüstung kurdischer Städte im Osten der Türkei durch die Staatsgewalt – auch sie demokratisch legitimiert. Und wenn Donald Trump amerikanischer Präsident werden sollte, gibt es diesen Typus von Demokratie demnächst auch in der „City upon a Hill“ (dt: Die Stadt auf dem Hügel).
Wann kommt die Wahrheit über die Türkei auf den Tisch? Wie will Deutschland mit dem Umbau der Türkei in eine autoritäre Demokratie ohne Recht und ohne Gewaltenteilung umgehen? Wir sprechen hier von Deutschland. Nicht von der EU, die an die Entlastung vom Flüchtlingsstrom denkt. Nicht von der Nato, die an den Krieg gegen den IS denkt und das wichtige Nato-Mitglied Türkei niemals ausgrenzen wird – auch eine Türkei mit Todesstrafe nicht. Wird Deutschland sich hinter der EU und hinter dem Westen verstecken? Wir haben das flüchtlingspolitische Abkommen mit der Türkei schließlich erfunden. Bundeskanzlerin Merkel hat hier die Führung übernommen. Der Vorstoß hat ihren Machtverlust in Deutschland und in Europa noch einmal abgebremst. Gegen alle Warnungen und Appelle von Amnesty International und anderen Menschenrechtsorganisationen hat die deutsche Regierung bisher an der Kooperation mit der Türkei festgehalten. Als ob sie taub und blind und stumm wäre – nach dem bekannten Bild von den drei Affen.
Der Autor ist Historiker und lebt in Konstanz