Im Wohnblock lärmt es ohne Ende. Das Gebäude 3b auf dem Gelände der LEA (Landeserstaufnahme) in Meßstetten ist voll belegt. Bei Schlechtwetter stehen die Erwachsenen in den Türrahmen und schauen auf andere Erwachsene, die auch im Türrahmen stehen. In Meßstetten gibt es häufig schlechtes Wetter. Kinder aus dem Mittleren Osten oder Afrika sind besonders betroffen. In ihrer Heimat ist Regen eine Seltenheit. Also verkürzen sie die Langeweile. Mit ihren Fahrrädern rattern sie den breiten Gang auf und ab. Ein dichtes rollendes Geräusch. Die Erwachsenen in den Türen schauen zu und feuern die Kleinen an. Was sollen sie sonst tun, sagt eine Frau, das ist doch ganz normal.
3190 Flüchtlinge wohnen zu diesem Zeitpunkt in der ehemaligen Kaserne der Bundesluftwaffe. Da wird es schnell lärmig. Die meisten stört das nicht. Andere Länder, andere Dezibel. Der Krach unterbricht die Monotonie, die sich zwischen dem viermaligen Essenfassen am Tag breit macht. Lärm ist wie Radio. Er strukturiert die vielen leeren Tage bis zum endgültigen Bescheid, wer bleiben darf. Denn das wollen alle: bleiben.
Eine bessere Welt
In diesem Durcheinander hat sich eine junge Syrerin ihr eigenes Refugium geschaffen. Al Ghanem Al Ahmed Khadija malt. Mit ihrer Schaffenswut füllt die 29-Jährige Leinwand um Leinwand mit ihren Figuren. Ihre Geschöpfe haben klare Konturen, kantige Aussagen. Lustige und traurige Gesichter. Solche, die ihre Hände auf die Knie stützen und verzweifelt sind. Khadija malt Bilder, die mit dem Krieg zu tun haben.
Es sind Porträts der Verzweiflung.Vom dicht belagerten Gang führt sie uns in ihr Zimmerchen. Hier wohnt sie mit ihrer Tante Iman Alsarie und deren Sohn Ghais. Sobald sie die Tür zuzieht und die Schuhe auszieht, betritt sie eine andere Welt. Eine bessere Welt auf wenigen Quadratmetern, abseits des kernigen Winters auf der rauen Alb. Es ist eine Welt der vielen Plüschtiere, der halb ausgepackten Reisetaschen und der Acrylfarben, deren Geruch schwer in dem Raum 118 hängt.
Khadija hat das Malen in ihrer Heimat begonnen. Die Mutter zeigte ihr die ersten Handgriffe und schulte früh das kindliche Auge. Ihre großformatigen expressiven Gesichter bedeckten immer größere Flächen des Elternhauses. Es war für sie Schutzraum, Werkstatt und Galerie in einem.

Dann der Abschied. Anfang des Jahres machte sie sich auf den Weg, um den Kriegsherren in Syrien zu entgehen. Wer im Einzelnen geschossen und bombardiert hat, weiß sie nicht. Khadija ist politisch kaum interessiert. Sie kann und will die Waffen oder Uniformen nicht unterscheiden. Aber sie sagt entschieden und mit kräftiger Stimme: Der IS ist nicht allein die Ursache. Das Glück ihrer Kindheit wurde später zum Verhängnis: Sie stammt aus Aleppo, in alten Zeiten eine der Perlen des Orients. Zitadelle, Basar, Armenisches Viertel. Mit dem Niedergang von Assads Herrschaft verkam Aleppo zum bizarren Brennpunkte des Krieges.
Die Milizen bekriegen sich über die Köpfe der Bürger hinweg, erklärt Khadija in gebrochenem Englisch.Anfang des Jahres brach sie auf, erst Anfang Oktober erreichte sie die Bundesrepublik auf dem Landweg. Acht Monate rastete sie in der Türkei und arbeitete in einer großen Textilfabrik. Als Designerin, wie sie sagt. „In der Türkei arbeiten Hunderte von Syrern. Sie verdienen sich dort das Geld für die Weiterreise.“
Zwischen der Türkei und dem gelobten Deutschland liegen Staaten, die Khadija in schlechter Erinnerung hat. Die Griechen sind überfordert, Ungarn baut eine Mauer, Österreich schüttelt den Transitreisenden die Hände und kanalisiert sie elegant nach Deutschland. Sie war am Ende erstaunt, so schnell ins Wunschland zu kommen. In 32 Tagen von Istanbul nach Bayern. Jetzt überwintert sie auf der Alb.Was sie erwartet? „Die Leute sind hier so freundlich und nett.“ Dabei hat sie außer dem Wachpersonal, den Fahrern und dem Caterern noch keine Deutschen kennengelernt.
Das Smartphone, der wichtigste Begleiter auf der Flucht
Die Ursache für den grenzenlosen Optimismus, für dieses Kuscheltier-Deutschland hat sie stets zur Hand. Ein Smartphone, ihr wichtigster Begleiter auf der Flucht. Es dient als Telefon, als Fotoalbum und Unterhaltungsmaschine mit aktuellem Arab-Pop.Und es bietet Übersetzungshilfe. Es geht ganz einfach. Khadija tippt mit schnellem Finger einen Satz in arabischer Sprache ein. Das Gerät spuckt sofort die deutsche Übersetzung aus. Sie hat nur einen kleinen Makel: Die Sätze sind maschinell übersetzt, Wort für Wort, sinnentstellt.Auf unbeholfene Art wirken sie authentisch, zum Beispiel: „Ich bin Schriftstellerin und Dichterin“. Das Smartphone erzählt manche Geschichte. Eine handelt von dem Mann, den sie in der Türkei kennenlernte. Er heißt Hussein und arbeitete in derselben Fabrik. Auch er strebt nach Deutschland. Beide lernten sich während der 12 Stunden dauernden Schichten kennen und lieben.
In der Türkei – dem derzeit größten Durchgangslager – heirateten sie. Warum reist sie dann ohne Hussein nach Deutschland weiter?, fragt man sich. Sie erzählt ohne Zögern: „Ich hatte 3500 Euro beieinander für die Flucht.“ Hussein kann den Riesenbetrag nicht lockermachen. Noch nicht. Also zog sie alleine los.Dass ihre Schilderung an dieser Stelle sehr dünn wird, spürt sie selbst. „Er kommt später nach“, sagt sie und zeigt Fotos auf ihrem Gerät. Man sieht einen jungen Mann mit T-Shirt und Sonnenbrille. Er sieht aus wie ein Urlauber. Auf dem Smartphone taucht der Satz auf: „Ich bin von der deutschen Kultur vor 15 Jahren beeindruckt.“
Khadija erklärt ihre großformatigen Bilder
Warum trägt sie so viel Grau auf? Sie weist auf sich, ihre Kleidung, die in dunklen Tönen gehalten ist. „In Aleppo wirst du nur Schwarz und Weiß finden in diesen Tagen. Höchstens noch ein Tupfen Gelb“, sagt sie.Auf dem Gang draußen wird es ruhiger. Einer der Wachmänner hat die Kinder nach draußen geschickt. Wenig später geht die Tür auf, ein junger Mann stellt sich als Ali vor. Er hat ein offenes Gesicht. Er spricht passabel Deutsch und trägt einen Gips.Ali hat es geschafft, fast. Er zeigt die glitzernde Chipkarte mit dem Aufenthaltstitel. Er arbeitet beim Wachdienst und verdient etwas dazu. Er schaut nach Khadija und ihren Verwandten und hat stets einen Scherz auf Lager. Ali sagt an die Adresse der Deutschen: „Es ist gut, dass Ihr uns aufnehmt. Aber passt auf die IS-Leute auf. Sie geben sich als Flüchtlinge aus. Gebt Acht.“
Auf dem Gang von Haus 3b kommt Getrappel auf. Der Uhrzeiger, der früher Soldaten rief, schnellt auf 12 Uhr. Zeit zum Mittagessen, eine von vier Mahlzeiten. Khadija ist mit den Menüs nicht zufrieden. Das Frühstück sei gut, sagt sie. Aber Mittagessen? Na ja. Den Einwand, dass es Deutsche gibt, die für dieses Essen dankbar wären, übergeht sie. Ein Übersetzungsproblem, aber nicht nur. Offenbar steckt auch ein Deutschland-Bild in den Köpfen, das stark überhöht ist. In der alten Kaserne wird es nie ein Essen geben können, das Eritreern, Afghanen und Sikkhs gleichermaßen schmecken wird.
Insgesamt ist Khadija dankbar. Ihren Hussein wird sie noch holen, dazu ihre Mutter, die in Aleppo und alle Tage auf Nachricht wartet. Für Khadija ist klar, dass man eine Familie zusammenführt, weil die Familie eben alles ist. Die Deutschen sind doch aufgeschlossen („open minded“), oder nicht?Flink rollt sie den kleinen Bildschirm. Frische Satzfetzen flimmern auf. Fragmente von Heimat, Flucht, Liebe und Ankunft in Deutschland. Bei einem Satz verweilt Khadija kurz und zeigt ihn her: „Hier ist ein Baby gestorben.“
Der Krieg in Syrien
Das Land ist gut halb so groß wie die Bundesrepublik (185 000 Quadratkilometer). Mehr als 20 Millionen Menschen lebten dort in relativer Sicherheit. Seit der Machtergreifung durch die Bath-Partei (1963) wurde der arabische Staat von der Assad-Familie beherrscht, bis der Aufbruch in den arabischen Staaten auch Syrien erfasste.Er veränderte das Land grundlegend. Anfangs noch als Arabischer Frühling interpretiert, wurde das Jahr 2011 für die Syrer zum Beginn eines Bürgerkriegs. Die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) kontrolliert inzwischen über die Hälfte des Staatsgebiets. Der IS ist vor allem in dünn besiedelten Gebieten zu Hause. Die Hauptstadt Damaskus, elf der 13 Provinzhauptstädte und die dicht bebauten Gebiete im Westen stehen noch immer unter der Kontrolle der gefürchteten Regierungstruppen (Fassbomben). Die verbleibenden Territorien werden von den Rebellen-Milizen kontrolliert. Vier Millionen Syrer, also jeder Fünfte, sind inzwischen Westen geflohen.