Der Eremit macht sich rar, Menschen bekommen ihn selten zu Gesicht. Ohnehin kennen den bis zu vier Zentimeter langen Käfer mit blauschwarzen Stummelflügeln die wenigsten unter seinem wissenschaftlichen Namen. Weithin bekannt ist er als Juchtenkäfer.
Männchen verströmen strengen Duft
Wenn die männlichen Tiere Sex haben wollen, verströmen sie nämlich einen strengen Duft, der an Juchtenleder erinnert. Potenzielle Partnerinnen riechen das noch in einem Kilometer Entfernung, obwohl die Brummer nur wenige hundert Meter fliegen können. Für die Begattung ziehen sich die Pärchen dann wieder in ihre Baumhöhle zurück. Kein Wunder also, dass es normalerweise ziemlich ruhig um den Juchtenkäfer ist.

Was der Tunnel-Projektleiter sagt
Für Sebastian Heer ist das ganz anders. Der Projektleiter für den Tunnel beim Bahnprojekt Stuttgart 21, der unter dem am Rand der Innenstadt gelegenen Rosensteinpark durchführt, hat täglich mit dem Juchtenkäfer zu tun. Denn die vom deutschen wie europäischen Recht streng geschützte Art wurde genau in den zwei Bäumen nachgewiesen, die über seinem Tunnel stehen.
Arbeiten wurden sofort gestoppt
Als man die Tiere 2013 kurz vor dem Anrücken der Bagger fand, wurden die Arbeiten sofort gestoppt, obwohl die Bahn eine gültige Genehmigung hatte. Erst drei Jahre später ging es weiter, nachdem die EU verfügt hatte, dass die beiden Bäume stehen bleiben müssen. Statt die komplizierte Kreuzung eines S-Bahn-Tunnels mit dem neuen Fernbahntunnel in offener Baugrube von unten nach oben zu betonieren, werden die Röhren jetzt abschnittsweise „bergmännisch ausgeführt“, wie Heer sagt.
Fünf Meter unter den Juchtenplatanen müssen die Tunnelbauer Spezialbagger einsetzen
Die meterdicken Stützwände werden zum Teil wieder entfernt, wenn die Innenschale den Tunnel stabilisiert. Es geht eng zu an dieser Stelle im Park: Weiter in die Tiefe können die Planer nicht, weil sie sonst die berühmten Stuttgarter Mineralquellen gefährdet hätten. Schließlich betonieren sie die Tunnelröhren oben abgeflacht, um zwischen Wasser und Bäumen durchzukommen. „So etwas wurde noch nie gebaut“, sagt Heer. Der Mehraufwand summiert sich: „Alles in allem kostet uns das 20 Millionen Euro zusätzlich.“ Was er davon hält, behält der Bauingenieur für sich.
Für überzeugte Artenschützer sind 20 Millionen kein Argument. Schließlich koste Stuttgart 21 mit Bahnhof und Tunneln bald zehn Milliarden und die Bahn sei ja selbst schuld. Finanzpolitiker des Landtags schütteln den Kopf. Gerade hat die Haushaltskommission unter großen Mühen 20 Millionen Euro für den Notfallplan Wald reserviert, um in ganz Baden-Württemberg die Schäden des Hitzesommers einzudämmen.
Die EU setzt hohe Anforderungen an den Artenschutz. Die europäische Ebene ist in diesem Park für die Genehmigung von Ausnahmen zuständig, weil es sich um ein Fauna-Flora-Habitat-Gebiet handelt. Da sind auch Bäume geschützt, in denen kein Juchtenkäfer gefunden wurde, sondern nur die artverwandten Rosenkäfer. Ein halbes Dutzend solcher Platanen steht da, wo ein Fluchtweg notwendig ist. Sie werden mit „Wurzelvorhängen“ geschützt. Die sollen verhindern, dass potenzielle Juchtenkäferbäume eingehen.
Für zweieinhalb Jahre Zeitverzögerung sorgte der strenge Artenschutz auch am anderen Ende des Rosensteinparks. Dort standen sechs Bäume im Weg, die Heimat des Juchtenkäfers hätten sein können. Als man sie im Februar 2018 nach einem aufwendigen Ausnahmeverfahren fällen durfte, fand man weder den Käfer noch dessen Larven, dafür aber eine Flasche mit Käferkot. Die Bahn klagte über einen Millionenschaden durch Manipulation.