Frauen werden abgedrängt, begrapscht, ausgeraubt. So oder so ähnlich – das legen die ersten Ermittlungsergebnisse nahe – erging es vielen Kölnerinnen, die sich auf eine ausgelassene Silvesternacht im Schatten des Doms gefreut hatten. Wie von selbst kamen angesichts dieser gespenstischen Szenerie Erinnerungen an die Schilderungen von Frauen auf, die 2011 auf dem Kairoer Tahrir-Platz für Demokratie und eine liberalere Gesellschaft demonstrierten, dann aber Opfer von brutalem sexuellen Missbrauch und Vergewaltigungen wurden.
Auch Markus Symank, langjähriger Ägypten-Korrespondent unserer Zeitung, musste an die Großdemonstrationen auf dem zentralen Platz in Kairo denken, als er von den Übergriffen in Köln hörte. Wie aber ist es zu erklären, dass – nach allem, was man weiß – junge Männer aus arabischen und nordafrikanischen Ländern in Deutschland zu Tätern werden?
„Zunächst einmal ist es so, dass viele Männer aus Marokko, Tunesien, aber auch Ägypten oder eben Syrien nach wie vor Frauen kein Recht auf gesellschaftliche oder gar sexuelle Selbstbestimmung einräumen. Das wirkt nach“, sagt Symank. Viele Opfer der Silvesternacht gaben an, dass die Männer, die sie bedrängten, französisch gesprochen hätten. Die Sprache also, die in Marokko, Algerien oder Tunesien gesprochen wird. Unter den Festgenommenen sollen jedoch in erster Linie Syrer gewesen sein. Symank erklärt: „Beispiel Tunesien: In diesem Land gibt es traditionell eine starke Bewegung, die für die Rechte der Frauen kämpft. Wie auch in Marokko oder Ägypten prallen diese Gruppen extrem hart auf die überkommene Machogesellschaft. Das ist auch in Syrien nicht anders.“ Das Leben funktioniere auch in diesen Staaten nicht mehr so, wie noch vor 50 oder 100 Jahren. Die Erziehung in vielen Familien gaukelt dies gerade den Jungen aber dennoch vor.
Wenn es um Straftäter aus muslimischen Ländern geht, ist automatisch Religion ein Thema. Unstrittig ist, dass in muslimischen Ländern ein Frauenbild verbreitet ist, das uns fremd ist. Dennoch warnt Symank davor, das Religiöse als Motiv der Taten von Köln zu sehr in den Vordergrund zu stellen. „Die Männer, die auf dem Domplatz Frauen begrapscht haben, sind mit Sicherheit keine religiösen Fanatiker oder Salafisten. Fundamentalisten würden sich auf keinen Fall betrunken an Silvester dort aufhalten“, sagt Symank. ,,Mit Islam hat das nicht viel zu tun, eher mit einer fehlgeschlagenen Erziehung“, sagt auch der Münchner Professor der Soziologie, Armin Nassehi. Es handele sich um junge Männer, die nichts mit sich anzufangen wissen – ähnlich wie Hooligans oder Rechtsextreme. „Es ist kein Rassismus, wenn man klar sagt, dass sich da unter jungen Einwanderern fatale Parallelstrukturen gebildet haben.“ Vieles deutet in der Tat darauf hin, dass unter den Tätern auf der Domplatte Männer den harten Kern gebildet haben, die bereits auf eine kriminelle Karriere zurückblicken. Sogenannte „Antänzer“ – sprich: Taschendiebe und Kleinkriminelle, die Körperkontakt suchen, um ihre Opfer zu bestehlen – könnten die Hauptrolle gespielt haben.
Eine Spielart der Kriminalität, die die Polizei in Nordrhein-Westfalen schon seit geraumer Zeit mit Sorge registriert. In Düsseldorf beispielsweise wurde eigens eine spezielle Untersuchung unter dem Namen „Analyseprojekt Casablanca“ eingeleitet, um dem Phänomen „Antanz-Banden“ auf den Grund zu gehen. Das Ergebnis der Studie, die sich auf Erkenntnisse aus dem Jahr 2014 stützt, ist zwar in der Öffentlichkeit kaum bekannt, aber durchaus alarmierend: Alleine in Düsseldorf, dort wohnen gut 600 000 Menschen, wurden über 2200 junge Männer registriert, die im Verdacht stehen, derartigen Diebesbanden anzugehören. Fast 4500 Straftaten werden ihnen zur Last gelegt. Laut „Bild“-Zeitung bilden junge Marokkaner den Kern der Banden.
Neu war allerdings in Köln, dass diese Gruppen derart massiv und offen auftreten. Schließlich ist es unter normalen Bedingungen ihre Masche, möglichst unauffällig zu agieren. Dabei scheint der erhöhte Alkoholpegel zu der Enthemmung der Täter geführt zu haben. „Ich glaube, dass sowohl in Kairo als auch in Köln viele junge Männer dabei waren, die unter Minderwertigkeitskomplexen leiden. Sie haben weder gesellschaftlich, noch als Männer Erfolge“, sagt Ägypten-Kenner Symank.
Abschiebungen, die jetzt von Politikern gefordert werden, da ist sich Nassehi sicher, können das Problem nicht lösen. „Das wird nur bei wenigen Personen möglich sein. Schließlich haben wir ein Individualstrafrecht, das das Abschieben von Gruppen nicht zulässt.“ Die unbequeme Wahrheit sei, dass man nur langfristig Erfolge haben werde. „Wir sind ein Einwanderungsland. Deshalb müssen wir uns fragen, warum diese Gruppen nicht für Bildungsangebote erreichbar sind. Wir brauchen Integration, wir brauchen Lehrer und Sprachkurse“, sagt Nassehi.