Ein klein wenig mulmig wird es vielen der Touristen schon, wenn sie im stillgelegten Kernkraftwerk Ignalina auf dem Schachbrettmuster aus kleinen grauen Metallplatten stehen. Sieben Meter unter ihren Füßen befand sich abgeschirmt durch mehrere Schutzschichten bis vor gut zehn Jahren noch der Druckbehälter mit Brennstäben. Dann war Schluss für Litauens wichtigste Energiequelle, die baugleich mit dem 1986 havarierten Unglücksreaktor in Tschernobyl ist. Doch seitdem der einst größte Meiler der Sowjetunion in Litauen als Kulisse für die erfolgreiche Miniserie „Chernobyl“ des Senders HBO (in Deutschland bei Sky zu sehen) diente, ist Ignalina zu einer neuen Touristenattraktion in dem EU-Land geworden.
Touren sind ausgebucht
„Seitdem die Serie ausgestrahlt wurde, haben wir eine Vielzahl mehr an Touristen als üblich“, erzählt Audrius Kamienas, Generaldirektor des stillgelegten Kernkraftwerks. Viele wollten den Drehort des fünfteiligen Dramas besuchen, das realitätsnah und düster die größte Atomkatastrophe in der zivilen Nutzung der Kernenergie aufgriff.

Ignalina-Touren sind über mehrere Monate hinweg ausgebucht. 2019 besuchten 4884 Touristen das Kraftwerk – mehr als doppelt so viele wie 2018. Und die Nachfrage aus Litauen, Europa und aller Welt steigt. Statt bislang drei Touren pro Woche finden nun an vier Tagen bis zu zwei Führungen für Gruppen von maximal 15 Personen statt.
Litauen hatte das Kraftwerk auf EU-Vorgabe Ende 2009 vom Netz genommen und stellt seitdem seine Energieversorgung auf neue Beine – ohne Atomkraft. Trotz Stilllegung gelten weiter hohe Sicherheitsanforderungen. Bewaffnete Uniformierte kontrollieren hier. Mobiltelefone, Fotokameras und andere technische Geräte sind ebenso wie Essen und Trinken strikt verboten in der riesigen Anlage.

In einem blütenweißen Overall und mit einem Schutzhelm auf dem Kopf werden die Besucher bei der rund dreistündigen Tour durch ein Labyrinth aus endlos langen Gängen geführt. Herzstück ist der fensterlose Kontrollraum des Reaktors. Besucher posieren neben Bildschirmen aus alten Zeiten und Tischen mit Knöpfen und Schaltern. Hier befindet sich auch der legendäre Knopf für die Reaktor-Notabschaltung, der im Film „Chernobyl“ gedrückt wird. Ein Konstruktionsfehler verursachte damals im ukrainischen Kraftwerk die fatale Kettenreaktion. Es kam zur Explosion. Die Folgen sind bis heute zu spüren.

„Ignalina ist etwas für richtige Liebhaber und sehr informativ, weil es eben ein Drehort der Serie war und um sich mal anzugucken, wie ein Kraftwerk aussieht, das nicht explodiert ist“, schildert Sven Heiduk aus Oberhof in Thüringen nach der Tour seine Eindrücke. „Tschernobyl ist aber ein bisschen spannender. Und man darf selbst fotografieren.“
Katastrophenreisen in die Ukraine
Heiduk kennt sich an der rund 600 Kilometer von Ignalina entfernten Atomruine in der Ukraine aus. Der 48-Jährige bietet deutschsprachige Touren für kleinere Gruppen an. Die Nachfrage steigt auch bei ihm. „Vorher waren es Abenteurer, seit der Serie wollen mehr Leute wissen, was damals beim Unfall passierte“, sagt er.

In der Ukraine hat der Katastrophentourismus bereits seit der Öffnung der Sperrzone um den havarierten Reaktor für Touristen im Jahr 2011 Fahrt aufgenommen. 2019 wurde zum ersten Mal die Marke von 100 000 Besuchern übertroffen. „Es ist schon richtig Massentourismus“, sagt Heiduk.

Innerhalb der einstigen 30-Kilometer-Sperrzone bieten ein Hotel und ein Hostel Übernachtungen an. Und ein Ende des oft auf schmalem Grat zwischen Sensationslust und geschichtlichem Interesse wandelnden „Dark Tourism“ ist nicht in Sicht. „Jedes Jahr wächst die Zahl der Touristen im Schnitt um 100 Prozent“, sagt Tschernobyl-Touranbieter Jaroslaw Jemeljanenko. Eine Spezialtour zum Film an die Originalorte sei bis zum Herbst bereits ausgebucht.