Herr Tannous, es ist immer spannend zu sehen, wenn Außenstehende einem den Spiegel vorhalten. Sind wir Deutschen wirklich so schlimm?
Tannous: Im Gegenteil! Ich denke, unser Buch ist voller Wertschätzung für die Deutschen und klagt niemals an. Ohnehin ist es nicht unsere Absicht, zu bewerten. Stattdessen wollen wir dazu beitragen, Missverständnisse zu vermeiden und Integration zu erleichtern.
Dazu ist es wichtig, sich über kulturelle Unterschiede bewusst zu werden. Viele unserer Leserbriefschreiber stellen die Frage andersherum: Sind die Deutschen wirklich so gut? Sie fordern uns dazu auf, kritischer mit den Deutschen ins Gericht zu gehen.
Hachmöller: Selbstkritik ist eben auch ein typisch deutscher Reflex.
Was können die Syrer von den Deutschen lernen und die Deutschen von den Syrern?

Tannous: In vielen Bereichen des Lebens gehört Syrien zur Dritten Welt und Deutschland zu der ersten. Aus dieser Perspektive können die Syrer viel von den Deutschen lernen. In Deutschland hat alles ein System: das Gesundheitssystem, das Bildungssystem, der Verkehr, die Wirtschaft, selbst das Privatleben der Deutschen hat System.
Deutschland ist das Land der Dichter und Denker, es gibt so viel Kultur! In meinem Umfeld gibt es nur wenig Deutsche, die kein Instrument spielen können oder in einem Chor singen. Das beeinflusst auch uns als Familie: Meine Töchter lernen jetzt Klavier und Gitarre, demnächst wollen sie einen Tanzkurs machen.
Und Deutschland ist für mich das Land der Leistungsfähigkeit, der hohen Taktzahl. Zum Beispiel beim Sport: Sport ist in Deutschland nicht auf junge Menschen beschränkt, sondern auch ältere Leute treiben Sport und bleiben fit, in Syrien ist das undenkbar.
Das Vordergründige, was viele Deutsche an der syrischen Kultur schätzen, ist das Essen. Die syrische Küche hat wirklich einiges zu bieten und erscheint mir etwas abwechslungsreicher als das deutsche Essen.
Wenn man tiefer gräbt, gibt es aber weitere kulturelle Unterschiede: Viele Araber haben zum Beispiel einen anderen Umgang mit Zeit. Unsere Vorstellung von Planung und Pünktlichkeit passt zunächst vielleicht nicht immer in den deutschen Alltag, aber unsere Flexibilität im Umgang mit der Zeit erlaubt es uns, mit Terminen zu jonglieren und zum Beispiel flexibel auf Einladungen einzugehen, auch wenn man eigentlich etwas anderes vorhatte.
Natürlich darf man nicht zu sehr generalisieren, aber ich denke, der Syrer lebt etwas lockerer als der Deutsche und schätzt den Genuss mehr als den Stress. Wir trennen auch weniger stark zwischen Privatem und Arbeit. In Deutschland dagegen gilt: „Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps“.

Hachmöller: Die Frage impliziert, dass ein bestimmtes Verhalten aus einer der beiden Kulturen per se besser sei als ein bestimmtes Verhalten aus der anderen Kultur. Eine solche Wertung liegt aber im Auge des Betrachters und orientiert sich an dem persönlichen Wertekanon und Erfahrungshorizont.
Ich persönlich zum Beispiel finde die zeitliche Flexibilität und Geduld vieler Araber sehr charmant. Davon versuche ich mir im Privatleben manchmal eine Scheibe abzuschneiden. Das heißt aber nicht, dass der arabisch geprägte Umgang mit Zeit nun höherwertiger ist als der deutsche. Der Umgang mit Zeit wie auch mit tausend anderen Dingen ist zunächst mal einfach unterschiedlich zwischen Deutschen und Arabern, darauf wollen wir hinweisen.
Sie sprechen in Ihrem Buch explizit das Nichtgelingen von Integration an. Mir scheint, das ist ein Thema, das erst jetzt offener diskutiert wird.
Hachmöller: Es wurde auch bisher diskutiert, aber leider fast immer nur von einer politischen Seite angesprochen, nämlich der extremen Rechten. Ich finde, wir dürfen als Gesellschaft dieses Thema – und es ist ein Thema! – nicht den Afdlern und Pegidisten überlassen.
Auch die Probleme im Zusammenhang mit Zuwanderung und Integration wie zum Beispiel Clan-Kriminalität, das Rollenverständnis konservativer Moslems, das Verhältnis zu Staat und Religion dürfen von den Demokraten in diesem Land nicht verniedlicht, sondern müssen offen angesprochen werden.
Tannous: Deutschland tut unheimlich viel für seine Zuwanderer und öffnet ihnen viele Türen. Dafür empfinde ich tiefe Dankbarkeit. Aber mir als Zuwanderer scheint es so, als ob die Toleranz gegenüber Ausländern hierzulande manchmal seltsame Blüten schlägt. Ich denke, wer hierher kommt, um Schutz zu suchen, verwirkt sein Gastrecht, wenn er mit Sozialleistungen betrügt.
Wenn Ausländer straffällig werden, sollten sie zeitnah bestraft werden, damit das auch verstanden wird. Generell sollten Zuwanderer möglichst schnell aus einer passiven Nehmer-Rolle herauskommen und in dieser Gesellschaft aktiv werden. Das deutsche Sozialsystem begünstigt das nicht immer.
Und das schlechte Verhalten einiger weniger beschmutzt das Bild der vielen Zuwanderer, die sich gesetzestreu verhalten und zum Gemeinwesen einen konstruktiven Beitrag leisten wollen. Deutschland sollte Zuwanderer nicht nur alimentieren, sondern auch klare Forderungen an sie stellen, was die Integration angeht.
Es gab in den letzten Jahren einige schlimme Verbrechen, die zum Großteil Migranten zur Last gelegt wurden. Etwa die brutale Gruppenvergewaltigung einer jungen Frau in Freiburg, oder die jüngste Krawallnacht in Stuttgart. Das ist natürlich Wasser auf die Mühlen der AfD. Was ist da schiefgelaufen? Wie sollen wir mit diesen jungen Männern umgehen? Druck? Gespräche? Beides?
Hachmöller: Ein schwieriges Thema. Zum einen kann man der AfD-Propaganda entgegenhalten, dass die Kriminalität in Deutschland seit der großen Flüchtlingszuwanderung 2015 insgesamt nicht gestiegen ist. Das überrascht erst mal, behauptet die extreme Rechte in diesem Land doch in Dauerschleife, dass die Flüchtlinge unser Land unsicherer machten.
Andererseits sind Ausländer laut der Kriminalstatistik überproportional an Kriminalität beteiligt. Dahinter stecken meist verpasste Integrationschancen aus der Vergangenheit. Schlechte Integration kann keine Entschuldigung dafür sein, wenn ein Zuwanderer in die Kriminalität rutscht. Das deutsche Sozialsystem zwingt schließlich niemanden zu Straftaten, um hier überleben zu können.
Aber andersherum glaube ich schon, dass gute, frühzeitige und ernst gemeinte Integrationsangebote vor allem an junge Zuwanderer die beste Prävention darstellen. Integration ist nicht damit abgeschlossen, dass jemand die deutsche Sprache spricht oder Arbeit gefunden hat. Integration ist meines Erachtens erst dann wirklich gelungen, wenn auch die Werte, die unser Gemeinwesen tragen, verinnerlicht und angenommen wurden. Das muss unsere Gesellschaft auch einfordern.
Wenn zum Beispiel ein muslimisches Mädchen nicht am Sportunterricht oder einer Klassenfahrt teilnehmen darf, dann sollte die Schule das nicht einfach akzeptieren, weil diesem Mädchen hier eine gesellschaftliche Teilhabe verbaut wird. Anderes Beispiel: Wenn ein jugendlicher Zuwanderer notorisch stiehlt oder gewalttätig ist, darf das Gericht ihn nicht gleich wieder laufen lassen. Das versteht weder der Jugendliche noch der Polizist, der ihn am nächsten Tag wieder auf der Straße trifft.
Es muss einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Tat und Strafe geben. Das ist bei arabischen und persischen Jugendlichen noch wichtiger als bei deutschen, da in diesen Herkunftsländern Regeln oft nur dann befolgt werden, wenn der Bruch derselben Konsequenzen hat. Das ist in Deutschland anders. Hier werden Regeln meist auch dann noch befolgt, wenn sie nicht überwacht werden.
Tannous: Wenn die Integration in diesem Land mal nicht funktioniert, fragen die Deutschen sich reflexartig: „Was haben wir falsch gemacht?“, so als sei die Integration von Zuwanderern allein die Aufgabe der Deutschen. Ich finde, sie ist in erster Linie die Aufgabe der Zuwanderer und sollte deshalb stärker eingefordert werden.
Die meisten Zuwanderer haben frei entschieden, nach Deutschland zu kommen, und dieses Land hat ihnen großzügig die Türen geöffnet. Es ist nun auch an uns Zuwanderern, auf die Deutschen zuzugehen. Andere Kulturen zu entdecken und zu erleben, ist immer eine Bereicherung und eine Chance. Man sollte sich diese Chance nicht entgehen lassen.
Stichwort Rassismus: Herr Tannous, wie sicher fühlen Sie sich in Ihrem Alltagsleben?
Tannous: Ich fühle mich sehr gut und sehr sicher in diesem Land. Es war nicht immer einfach, aber inzwischen haben wir einiges geschafft. Mit Geduld, Zielstrebigkeit und Fleiß, aber auch mit der Hilfe von deutschen Freunden konnten wir fast alles, was wir uns vorgenommen haben, auch verwirklichen.
Wir haben die Sprache gelernt und lernen sie noch. Am Anfang konnten wir kein einziges Wort auf Deutsch, aber inzwischen finden wir uns fast überall gut zurecht. Unsere beiden Töchter meistern die Schule sehr gut. Und ich glaube, dass sie sich inzwischen eher als Deutsche denn als Syrer fühlen.
Es gibt ja durchaus Deutsche, die Menschen mit anderer Hautfarbe beschimpfen oder gar attackieren. Wie reagieren Sie dann? Der pakistanischstämmige Autor Hasnain Kazim packt da einen recht drastischen Humor aus...
Tannous: Ich finde es natürlich sehr schade, wenn Menschen in diesem Land solche Erfahrungen machen müssen. Aber ich selber habe mich niemals wirklich aufgrund meiner Hautfarbe diskriminiert gefühlt. Die meisten Leute, die ich in diesem Land getroffen habe, waren lieb und nett zu mir.
Was Rassismus angeht, habe ich immer die Aussage von dem französischen Philosophen Montesquieu im Kopf: „Ich bin ein Mensch, bevor ich Franzose bin, und ich bin Franzose nur aus Zufall.“ Meinungsfreiheit ist ein großer Schatz in Deutschland, den wir alle beschützen sollten.
Unterschiedliche Meinungen sind oft eine Bereicherung. Aber andere zu verletzen, ist nicht akzeptabel. Missverständnisse lauern immer dort, wo fremde Kulturen aufeinanderstoßen. Deswegen versuchen wir mit unseren Texten, beiden Seiten den Spiegel vorzuhalten.
Welchen Part hatten Sie bei der Entstehung des Buches, Herr Hachmöller?
Hachmöller: Das Buch wurde von Herrn Tannous und mir gemeinsam verfasst, es war eine echte Teamarbeit. Durch die Ich-Perspektive des Zuwanderers, zu der wir uns entschlossen haben, mag der Eindruck entstehen, dass die Inhalte von Samer Tannous stammen und die Formulierungen nur von mir.
Dem ist aber nicht so. Wie im Vorwort beschrieben, habe ich auch viel am Inhalt des Buches mitgewirkt und umgekehrt hat Samer einen Anteil an vielen Formulierungen darin. Und manches, an Form wie auch Inhalt, ist überhaupt erst aus unserer gemeinsamen Arbeit, den Gesprächen und Workshops und auch manchem gemeinsamen Bier erwachsen.

Zur Person
Samer Tannous, Jahrgang 1970, wurde in Al-Bayda/Syrien geboren. Er entstammt einer christlichen Familie und studierte französische Literatur in Nancy und Damaskus. 2015 kam er mit seiner Familie nach Deutschland. Mit Frau und Töchtern lebt er im niedersächsischen Rotenburg (Wümme). Er unterrichtet Französisch an verschiedenen Schulen.
Gerd Hachmöller, Jahrgang 1972, studierte in Marburg und Hannover Wirtschaftsgeografie sowie Volkswirtschaftslehre an der London School of Economics. Im Landkreis Rotenburg (Wümme) ist er als Stabsstellenleiter u.a. für das Thema Migration zuständig. Die beiden sind befreundet und verfassen für Spiegel-Online regelmäßig eine Kolumne zum Thema.
Das Buch: S. Tannous, G. Hachmöller: Kommt ein Syrer nach Rotenburg (Wümme). Versuche, meine neue deutsche Heimat zu verstehen. DVA/Spiegel-Buchverlag, 18 Euro.