Frau Thürmer, auf welcher Weitwanderung und in welchem Land erreiche ich Sie gerade? Wie lange werden Sie unterwegs sein?
Sie erreichen mich gerade in Polen! Ich bin am 17. März in Görlitz an der deutsch-polnischen Grenze gestartet und will durch ganz Polen, alle drei baltischen Länder und Finnland bis zur finnisch-schwedischen Grenze an die Spitze des Bottnischen Meerbusens laufen, 3500 Kilometer insgesamt. Voraussichtlich werde ich Mitte/Ende Juli am Ziel ankommen, wenn ich denn trotz Corona alle Grenzen überqueren kann.

Corona hat auch Ihre ursprünglichen Pläne durchkreuzt? Inwiefern?
Eigentlich wollte ich dieses Jahr zum ersten Mal seit langem wieder in den USA wandern, aber aufgrund der Corona-Restriktionen ist eine Einreise dort im Moment für EU-Bürger nicht möglich. Und leider ist es auch fraglich, ob ich meine Route durch Europa wirklich in einem Stück durchwandern kann. Stand heute würde ich schon an der polnisch-litauischen Grenze scheitern, da eine Einreise nach Litauen nur mit einer zehntägigen Quarantäne möglich ist.
Sie selbst bezeichnen sich als „die meistgewanderte Frau der Welt“. Wie viele Kilometer haben Sie bislang zu Fuß zurückgelegt? Ist Ihnen jemand auf den Fersen?
Im Moment bin ich bei 53.300 Kilometern. Es gibt zwar einige Männer, die mehr gewandert sind, aber meines Wissens nach keine anderen Frauen.
Viele glauben, man müsse sportlich sein, um das zu schaffen. Sie sagen von sich, Sie seien unsportlich. Welche Eigenschaften sollte man dennoch haben?
Ob man eine Langstreckenwanderung schafft, entscheidet sich zu 80 Prozent im Kopf und nur zu 20 Prozent in den Füßen. Fit wird man unterwegs von ganz alleine, aber die richtige Einstellung sollte man schon mitbringen. Und der wichtigste Faktor für den Erfolg einer solchen Wanderung ist ein möglichst niedriges Rucksackgewicht! Daher hat die Vorbereitung für meine allererste Tour ausschließlich am Computer stattgefunden, um meine Ausrüstung zu optimieren. Ins Fitnessstudio bin ich weder damals noch heute gegangen...

Was genau haben Sie im Gepäck?
Da ich ultraleicht unterwegs bin, wiegt meine gesamte Ausrüstung nur um die 5 Kilogramm. Dazu kommen dann noch Wasser und Proviant, aber auch damit habe ich selten mehr als 10 Kilogramm auf dem Rücken. Dieses niedrige Rucksackgewicht schafft man nur, wenn man gnadenlos optimiert: Aus Gewichtsgründen trenne ich mir sogar die Etiketten aus der Kleidung und habe weder Seife noch Handtuch dabei.
Haben Sie ein Wandervorbild?
Nein, Langstreckenwandern ist im Grunde genommen eine ziemlich egozentrische Angelegenheit. Diese langen Distanzen schafft man nur, wenn man gnadenlos seinen eigenen Stil und sein eigenes Tempo geht. Es ist viel wichtiger, seinen eigenen Rhythmus zu finden, als einem Vorbild nachzueifern.
Seit 2007 sind Sie dauerhaft unterwegs, haben Ihr Leben komplett verändert. Sie selbst sehen sich nicht als Aussteigerin, sondern als Umsteigerin. Warum? Wie kam es dazu?
Mir hat mein früheres Leben im Management immer sehr viel Spaß gemacht und ich möchte diese Zeit nicht missen. Ich bin nicht aus Frust umgestiegen, sondern weil ich meine begrenzte Lebenszeit „optimal“ nutzen wollte, also nicht immer weiter Karriere machen, sondern etwas Neues ausprobieren und meine Träume verwirklichen. Als ein guter Freund viel zu früh einen Schlaganfall erlitt und daran verstorben ist, wurde mir klar, dass Lebenszeit die entscheidende Ressource ist – und nicht etwa Geld. Sein Schicksal zeigte mir, dass ich meine Träume gleich verwirklichen musste, denn nichts und niemand kann mir garantieren, dass ich in fünf oder zehn Jahren, oder womöglich erst bei Renteneintritt, noch dazu in der Lage sein würde.

Was macht Sie am Langstreckenwandern glücklich?
Alleine über diese eine Frage könnte ich ein ganzes Buch füllen! Und es ist auch nicht nur ein Faktor, sondern viele Faktoren. Aber um es kurz zu machen: das Outdoorleben senkt die Glücksschwelle! Wenn Sie sich ständig auf das absolute Minimum reduzieren müssen, dann wird jedes kleine Bisschen, das über diese Grundbedürfnisse hinausgeht, zum totalen Luxus und löst unwahrscheinliche Glücksgefühle aus.
Für Sie ist es wahrscheinlich ganz normal, in einem Bett zu schlafen und morgens zu duschen. Ich hingegen liege fast immer auf einer dünnen Isomatte in meinem Zelt und habe maximal einmal die Woche eine Waschgelegenheit. Nach einer Woche wandern bin ich meist regelrecht paniert mit einer Schicht aus Sonnencreme, Schweiß und Dreck. Wenn ich das dann unter der Dusche endlich abspülen kann, bin ich dabei so glücklich, dass ich vor Freude laut singen könnte!
Sie wandern sechs Tage und haben einen Tag Ruhe. Wie viele Kilometer sind Sie am Tag auf den Beinen?
Ich laufe zwischen 30 und 35 Kilometer pro Tag, ausgenommen im alpinen Gelände. Das hört sich vielleicht viel an, ist aber nicht sonderlich schwierig, denn im Sommer habe ich dafür ja bis zu 16 Stunden Tageslicht. Da ich immer wild zelte und dabei nicht entdeckt werden will, kann ich gar nicht früher Schluss machen oder morgens lange ausschlafen. Ich baue mein Zelt erst bei Sonnenuntergang auf und wandere bei Sonnenaufgang schon wieder los.
Wenn Sie diese vielen Kilometer allein unterwegs sind, wie steht es mit der Einsamkeit? Reden Sie auch mit sich selbst?
Ich fühle mich unterwegs nie einsam: Erstens mag ich mich selbst sehr gerne und zweitens habe ich genug Unterhaltung. So telefoniere ich häufig mit Freunden in der Heimat oder höre Hörbücher und Podcasts. Ganz im Gegenteil genieße ich die freie Zeit, um quasi „hemmungslos“ nachdenken zu können. Als ich noch berufstätig war, hat ja ein Arbeitgeber darüber bestimmt, mit welchen Themen ich mich beschäftigen muss – jetzt bin ich alleinige Herrin meiner Gedanken.

Was war Ihre beeindruckendste Begegnung auf den Touren?
Ich bin nun seit mehr als einem Jahrzehnt fast ununterbrochen unterwegs, da gab es so viele interessante Begegnungen, dass ich keine herausgreifen kann.
Gab es auch bedrohliche Situationen?
Weniger als man vielleicht denken möchte! Ich stand schon mit Grizzlybären Aug in Aug, bin um Dutzende Klapperschlangen herumgelaufen und hatte beim Anblick von rauchenden Vulkanen Angst vor einem Ausbruch. Das Dramatischste war aber wohl, als ich plötzlich in eine unterirdische Höhle eingebrochen bin und mich nur mit Mühe und Not wieder daraus befreien konnte – glücklicherweise unverletzt, aber unter Schock.
Wie lange halten ein paar Wanderschuhe?
Ich laufe nie in Wanderstiefeln, sondern ausschließlich in leichten Trailrunningschuhen, die je nach Modell und Gelände zwischen 1000 und 1500 Kilometer aushalten. Das heißt im Klartext, dass ich spätestens alle 6 Wochen neue Schuhe brauche.
Wenn Sie nicht unterwegs sind, schreiben Sie Bücher. Wo leben Sie dann?
Meinen „Heimaturlaub“ verbringe ich in einer kleinen, aber sehr günstigen Plattenbauwohnung in Berlin.
Welche Strecke können Sie als Einstieg ins Weitwandern im Süden Deutschlands empfehlen?
Der Schwäbische Alb Nordrandweg HW1, kurz auch Albsteig genannt, ist mein liebster Wanderweg in ganz Deutschland.
Welche in Österreich und der Schweiz?
In Österreich ist es der Salzburger Almenweg, der als Rundweg durch das Salzburger Land führt. Nirgendwo sonst habe ich so viele Heiratsanträge bekommen. Allerdings nicht von feschen Bauernburschen, sondern von den potenziellen Schwiegermüttern. Für deren Söhne ist es nämlich sehr schwer, eine Frau zu finden, die als Bäuerin leben möchte... In der Schweiz ist es die spektakuläre Alpenpassroute, die sich von Ost nach West durch das ganze Land zieht.
Welche Ziele peilen Sie zum Langstreckenwandern als Nächstes an?
Da Corona mir nun schon in der zweiten Saison einen Strich durch meine Wanderpläne macht, habe ich noch viele Routen offen, die ich zu Ende laufen möchte. So habe ich eine Europa-Diagonale von Irland nach Griechenland geplant, bin aber bisher nur bis an die Alpen gekommen. Den Teil durch Österreich, die gesamten Balkanstaaten und Griechenland möchte ich mir als Nächstes vornehmen.

Christine Thürmers neustes Buch: Weite Wege Wandern, Erfahrungen und Tipps von 45.000 Kilometern zu Fuß, Malik – Piper Verlag, 2020, 288 Seiten, 18 Euro