Die Mitteilung des Kantons Graubünden war schaurig: Wölfe seien des Nachts auf einer Alp in einen umzäunten Schutzraum eingedrungen und hätten eine siebenjährige Mutterkuh zerfetzt. „Bei diesem Riss handelt es sich um den ersten Fall im Kanton Graubünden, bei dem ein ausgewachsenes Nutztier aus der Rinderfamilie von einem oder mehreren Wölfen getötet wurde“, hieß es.
Das Datum der Nachricht stammt zwar aus dem Sommer, doch das Schicksal der Mutterkuh spielt weiter eine Rolle in einem erbitterten Streit in der Schweiz, der auch anderswo in Europa geführt wird: Wie halten wir es mit dem Wolf? Wie viele Raubtiere verträgt das Land?
Antworten gab jetzt das Parlament der Eidgenossen. Die Abgeordneten stimmten für eine starke Lockerung des Wolfschutzes im Jagdgesetz. Schon 2023 könnten die Schweizer die Hatz auf den Wolf intensivieren – vorausgesetzt, die zahlreichen Freunde des wilden Gesellen erzwingen kein Referendum. Dann hätte das Volk die Chance, die neue Regelung zu kippen.
Laut dem Beschluss sollen die Kantone ihre wachsende Wolfspopulation „vom 1. September bis 31. Januar regulieren dürfen“, die zuständigen Bundesbehörden müssen jedoch ihr Ja geben. Mit anderen Worten: Vom Spätsommer bis in den tiefen Winter hinein könnte es richtig eng werden für den Wolf, die Zahl der erlegten Tiere dürfte ansteigen. Mit den schärferen Regeln will das Parlament Attacken wie die auf die Mutterkuh in Graubünden verhindern: Die Raubtiere sollen präventiv aus dem Verkehr gezogen werden.
Zahl der Angriffe steigt
Noch gilt jedoch die alte Regelung. Demnach „dürfen primär nur Wölfe erlegt werden, welche wiederholt Nutztiere in geschützten Herden gerissen haben. Die Abschussbewilligung gilt nur für ein klar umgrenztes Gebiet und für drei Monate“, sagt der Präsident des Schweizerischen Wildhüterverbands, Urs Büchler. „In der Regel werden die vom Bund bewilligten Abschüsse durch die professionellen Wildhüter getätigt.“ Doch oft verfallen die Bewilligungen, weil die Waidmänner die schlauen Wölfe nicht zur Strecke bringen können.
Die Angriffe von Wölfen auf Schafe, Lämmer und andere Nutztiere häuften sich in den vergangenen Jahren. Ein Grund liegt in der steigenden Population. Besonders laut trommelt der Schweizer Bauernverband gegen die Wölfe. Die Probleme mit den hungrigen Jägern verschärften sich exponentiell. Angesichts drohender Attacken müssten Bauern ihre Nutztiere vom sommerlichen Weidegang in den Bergen ins Tal bringen. Die Wölfe erschütterten die Alpwirtschaft in ihren Grundfesten.

Auf politischer Ebene kämpft die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei gegen den Wolf. So schwadroniert SVP-Nationalrat Michael Graber aus dem Bergkanton Wallis laut der „Aargauer Zeitung“ von ungeborenen Lämmern, die vom Wolf „aus dem Mutterschaf gerissen werden“. Wölfe streunten am „helllichten Tag durch die Dörfer“. Graber wittert sogar ein „Staatsversagen“.
Nationalrat Nicolo Paganini aus St. Gallen stößt düstere Warnungen aus: „Wenn wir nicht rasch handeln, haben wir bald 700 Wölfe.“ Die Rudel, so unkt der Politiker der Partei Die Mitte, würden Angst und Schrecken in Siedlungen verbreiten.
Bei diesen Aussagen schütteln Schweizer Wolfs-Liebhaber nur den Kopf. Für sie erfüllt das Tier eine nützliche Funktion als Wächter der Wälder, trägt zum Gleichgewicht der Fauna bei. Die Verschärfung des Jagdgesetzes lehnen sie entschieden ab. „Weniger Wölfe bedeuten nicht automatisch weniger Schäden“, erklärt Christina Steiner, Präsidentin des Vereins CHWOLF.
Sie befürchtet, dass die neue Regelung ein Chaos in den Wolfsrevieren heraufbeschwören könnte. Wenn einzelne Wölfe aus intakten Rudeln herausgeschossen würden, breche die Sozialstruktur und letztlich der gesamte Verband auseinander. Die Folge: Jungtiere irrten auf der Jagd nach Beute allein umher. Steiner prophezeit sogar einen Bumerang-Effekt: „Es ist auch möglich, dass die Reproduktion, wie von den Füchsen her bekannt, angekurbelt wird und es im Folgejahr mehr Wölfe im Gebiet hat.“