Die Luftaufnahmen aus dem Amazonas-Dschungel sorgten auch in Europa für Erstaunen. Zu sehen ist eine Gruppe von Menschen eines indigenen Stammes, vermutlich eine Familie mit Eltern und drei Kindern, die auf einer kleinen Urwaldlichtung vor einer Hütte steht und gen Himmel schaut. Dort kreist ein Hubschrauber, aus dem ein Kameramann Fotos schießt. Der Mann, der der Vater sein könnte, trägt eine rote Bemalung auf der Haut, hält einen Bogen und hat einen Pfeil eingelegt. Ob er schießen würde, wenn der Hubschrauber tiefer ginge? Das Foto zeigt jedenfalls eines: Diesen Menschen steht nicht der Sinn nach Kontakt mit der modernen Zivilisation.
Das Bild entstand bei einem Flug über dem brasilianischen Bundesstaat Acre im Nordosten des Landes, einer abgelegenen Gegend an der Grenze zu Bolivien und Peru. Viele Tausend Kilometer entfernt, über der kleinen Insel Nord Sentinel im Indischen Ozean, hat die Besatzung eines Hubschraubers vor einiger Zeit ein ähnliches Foto gemacht: Ein Eingeborener am Boden zielt mit Pfeil und Bogen auf den Helicopter. Es ist eine Drohung: Kontakt nicht erwünscht. Lasst uns in Ruhe.

Als kürzlich der Tod des amerikanischen Missionars John Chau gemeldet wurde, der am Strand von Nord Sentinel bei dem Versuch getötet wurde, zu den Bewohnern vorzudringen, wurde vielen Menschen im Westen plötzlich wieder bewusst, dass es auf der Erde tatsächlich noch kleine Völker und Stämme gibt, die für sich bleiben wollen und ihre Lebensform verteidigen – wenn es sein muss, auch mit Gewalt.
Die Hetze des Wahlsiegers
Die Behörden Indiens, zu denen die Andamanen gehören, schützen die Sentinelesen vor der Neugier von Besuchern, haben die Bestimmungen kürzlich aber gelockert. Vermutlich hat dies den Amerikaner Chau ermuntert, es auf einen Versuch ankommen zu lassen.
Auch in Brasilien ist der Schutz von Urvölkern gefährdet. So hat Noch-Präsident Michel Temer 300 Stellen bei der Nationalen Indigenen-Stiftung Funai gestrichen und wollte Reservate verkleinern. Temers gewählter Nachfolger, der rechtsextreme Populist Jair Bolsonaro, wird diesen Kurs wohl verschärfen. Im Februar sagte er: „Wenn ich Präsident werde, wird es keinen Zentimeter indigenes Gebiet mehr geben.“

Dass sich viele indigene Stämme – in Brasilien sind es etwa 100 kleine Ethnien – abschotten, hat nichts damit zu tun, dass sie nicht gastfreundlich wären. „Viele haben Gewalterfahrungen mit Fremden gemacht“, sagt Linda Poppe von der Hilfsorganisation Survival International in Berlin. „Das begann mit dem Boom des Kautschuk im 19. Jahrhundert.“ Die Rohmasse für die Gummiherstellung war begehrt. Kautschukhändler schickten ihre Arbeiter in die Wälder des Amazonas, um den Kautschuk-Saft aus den Bäumen zu zapfen.
Tod durch Masern und Grippe
Die Experten der Funai sagen heute: diese Infiltration des Urwalds sei im kollektiven Gedächtnis der Indigenen hängengeblieben. Der Kautschuk war dabei weniger das Problem. Es waren Volkskrankheiten wie die Masern, die Grippe oder einfach nur Schnupfen, die die indigenen Stämme dahinrafften. Die Menschen – Nachfahren jener Nomaden, die vor 40 000 Jahren über die Beringstraße aus Asien nach Amerika wanderten – besaßen keine Abwehrkräfte gegen diese Art von Import.
Viel besser ist es seit damals nicht geworden: Heute sind es die Hilfstruppen der Holzbarone, die dem Regenwald seine Baum-Schätze nehmen, es kommen Kraftwerksbauer, Goldsucher und Erdöl-Ingenieure, und wo der Wald schwindet, treiben die Viehkönige ihre Rinderherden hin.

1988 erkannte die damalige Regierung Brasiliens die Gefahr und steuerte gegen – mit CGII, ein Gremium zum Schutz isolierter Indio-Stämme. Es soll die Nomaden unbemerkt aus der Entfernung begleiten und einschreiten, wenn Holzfäller oder Goldsucher ihre Biosphäre gefährden. So wurde 2008 das Foto der Urwald-Familie nur gemacht, um der Regierung des Nachbarn Peru einen Beweis zu liefern, dass in der Grenzregion Stämme leben, die durch Rodungen bedroht werden.
Auch die Funai-Stiftung hält sich inzwischen zurück und lässt die winzigen Stämme in Ruhe. Bis in die 1980er-Jahre war das anders. Da nahm man sofort Kontakt auf, wenn man im Urwald auf neue Ethnien stieß – schlimm für die Hälfte der Stämme: Ethnien mit so exotischen Namen wie Guaviao, Shavante, Marobo oder Yuqui erlagen eingeschleppten Krankheiten.

Das führte zu einem Umdenken. So kämpft Survival International für den Schutz „unkontaktierter Völker“ am Amazonas. Eines heißt Kawahiva und lebt in der Mato-Grosso-Region im Süden Brasiliens. Dort wurden Schneisen in den Urwald geschlagen, um Holz-Lkw freie Bahn zu verschaffen. „Die Kawahiva leben als Nomaden vom Jagen und Sammeln, sind aber auf der Flucht vor der illegalen Zerstörung des Waldes“, sagt Linda Poppe von Survival International. Sie fordert die Regierung in Brasilia auf, die ausgebremste Vermessung und Kartografierung der Region wieder aufzunehmen, um für die Kawahiva einen geschützten Lebensraum auszuweisen. „Das muss geschehen, bevor Bolsonaro am 1. Januar sein Amt antritt“, sagt Linda Poppe.
Warum sich Stämme verstecken
- Was ist mit „unkontaktierten Völkern“ gemeint? Es sind indigene Völker, also Ureinwohner, die keinen friedlichen Kontakt mit anderen Menschen in der Gesellschaft des Landes haben. Das können ganze Völker sein oder Gruppen von bereits kontaktierten Völkern.
- Haben diese Menschen also gar keinen Kontakt zur Außenwelt? Doch. Jeder Mensch hat Nachbarn, auch wenn diese weit entfernt leben können. Aber man weiß doch voneinander. Wenn die Nachbarn selbst ein indigenes (unkontaktiertes) Volk sind, stehen sie vielleicht sogar in friedlichem Kontakt.
- Standen die Stämme früher einmal in Kontakt zur Außenwelt? In einigen Fällen wohl ja. Manche hatten in der Vergangenheit wahrscheinlich Kontakt zu Siedlern und haben sich vor der Gewalt und der Habgier zurückgezogen, die sie dabei erfahren haben. Einige Ethnien haben sich vielleicht auch von einer größeren Gruppe abgespalten, um Kontakt zu vermeiden.
- Leben die Stämme seit Jahrhunderten unverändert? Nein. Einige Amazonas-Völker haben Waffen und Werkzeug aus Metall, die sie durch Tausch mit benachbarten Indigenen erhielten. Die meisten unkontaktierten Völker nutzen – wie man auf dem Luftbild von 2008 sehen kann – Werkzeuge aus Metall, die sie gefunden, gestohlen oder eingetauscht haben. Und das seit Jahren oder Generationen. Unkontaktierte Völker auf den Andamanen nutzen Metallteile von Schiffswracks.