Moderne Medizintechnik oder doch lieber das Kraut aus dem Garten? Ein Termin beim Facharzt oder das Gespräch mit dem Heilpraktiker? Schulmedizin und alternative Heilmethoden werden einander gern gegenübergestellt. Prof. Dietrich Grönemeyer, selbst Schulmediziner, plädiert in seinem neuen Buch „Weltmedizin“ dafür, diese Trennung ein Stück weit aufzugeben. Beides müsse Hand in Hand gehen, sagt er. Wie das geht und was Patienten selbst dafür tun können, erklärt er im Interview.
Sie untertiteln Ihr neues Buch „Auf dem Weg zu einer ganzheitlichen Heilkunst“. Was ist eigentlich ganzheitliche Medizin?
Eine Medizin, die die verschiedenen Heilweisen der Welt, bewährte Therapien anderer Epochen und Kulturen ebenso nutzt wie die Erkenntnisse der Schulmedizin. Außerdem sollte die ganzheitliche Medizin den Menschen stets in seinem psychosozialen Umfeld betrachten.
Ist das denn in der modernen Schulmedizin nicht der Fall?
Nicht durchweg. Im Zuge der fraglos exzellenten fachärztlichen Spezialisierung hat sich eine sozusagen segmentierte Medizin herausgebildet. Der eine behandelt Herz und Kreislauf, der andere die Haut und so weiter und so fort. Jeder mag auf seinem Gebiet eine Koryphäe sein. Als denkende, fühlende und soziale Wesen werden die Patienten dabei aber kaum noch wahrgenommen. Das ist dann nicht mehr ganzheitlich.
Ist das der Grund, warum sich manche Patienten von der Schulmedizin abwenden und lieber zum Heilpraktiker gehen?
Davon bin ich überzeugt. Wir Schulmediziner behandeln den Patienten zu oft nur funktionell und unter Ausnutzung aller Möglichkeiten der modernen Gerätemedizin. Das ist einerseits richtig. Andererseits bleibt uns so kaum noch Zeit für das Gespräch mit dem Patienten.
Was ist die Gefahr dabei?
Wir machen dem Patienten häufig Angst, weil er nicht versteht, was wir über seinen Kopf hinweg besprechen und beschließen. Dann doch lieber der Heilpraktiker, der sich mitfühlend auf einen einlässt, mögen sich da viele sagen. Diese Tendenz ist unverkennbar und gefährlich insofern, als sie manchen dazu verführt, schulmedizinische Behandlung auszuschlagen, wo sie dringend geboten wäre.
Wie erkenne ich als Patient einen Arzt, der ganzheitlich behandelt?
Erst mal daran, dass er meine Sprache spricht, kein Fachchinesisch; dass er auch auf meine Körpersprache achtet, dass er mich beruhigt, aber nicht betört, sondern ernsthaft prüft: Wie kann ich helfen? Ich sollte merken, dass der Arzt nicht meine Krankheit behandelt, sondern mich. Er sollte auch versuchen, meine Selbstheilungskräfte zu aktivieren, gleichzeitig aber die Grenzen aufzeigen und dann auch klar entscheiden: Kernspin, Katheter oder Operation.
Wie aktiviert ein Arzt Selbstheilungskräfte?
In dem Moment, da ich mich auf den Patienten einlasse und ihm somit das Gefühl gebe, ihn menschlich verstehen zu wollen, gebe ich ihm auch Hoffnung. Ich stimuliere seinen Lebenswillen, also die Selbstheilungskräfte. Im Grunde etwas ganz Einfaches. Ohne viel darüber nachzudenken, tut das jede Mutter, wenn ihr Kind krank ist. Das geht auch in der Schulmedizin. Denken Sie nur an die Hausärzte, denen viele Familien über Generationen vertrauten.
Welche Rolle spielt eigentlich der Patient selbst?
Wir sind selbst der wahre Medicus oder die wahre Medica. Wenn wir in uns hineinhorchen, erfahren wir, was uns guttut und was nicht. Das Wissen darum steckt zuerst in uns selbst, dazu brauchen wir keinen Arzt. Da ist vielmehr Achtsamkeit uns selbst gegenüber gefragt.
Wieso?
Es ist nicht damit getan, dass wir unseren Körper, wenn er Beschwerden bereitet, in dieser oder jener Praxis behandeln lassen, so wie wir das Auto, wenn der Motor stottert, in der Werkstatt abliefern. Ja, kompetente Hilfe brauchen wir dann auch. Aber wir selbst sollten uns um uns selbst ebenso kümmern. Und das vorsorgend genauso wie bei schwerer Erkrankung. Die Verantwortung dazu liegt in unseren eigenen Händen. (dpa)
Zur Person
Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer (65) ist Arzt und Autor mehrerer Bestseller. 1997 hat der Bruder von Herbert Grönemeyer das interdisziplinär ausgerichtete Grönemeyer Institut für Mikrotherapie in Bochum gegründet. Im Mai 2007 gründete er die Dietrich Grönemeyer Stiftung. Er will mit der Stiftung das Gesundheitsbewusstsein bei Kindern und Jugendlichen fördern.
Was bedeutet ganzheitlich?
„Wir nehmen den ganzen Menschen in den Blick“ oder „Wir arbeiten ganzheitlich“ – mit solchen Sätzen werben Heilpraktiker gern für ihre Arbeit. Das klingt verlockend. Wer will nicht als ganzer Mensch betrachtet werden, wenn ihm etwas wehtut? Die Frage ist: Müssen sich Patienten tatsächlich von der Schulmedizin abwenden, um als fühlende Wesen betrachtet zu werden?
- Es geht um mehr als Symptome: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Gesundheit als einen „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens“. Wenn sich die Medizin um den Erhalt oder die Wiederherstellung der Gesundheit kümmert, sollte sie also – streng genommen – immer ganzheitlich arbeiten. Oder biopsychosozial, wie Schulmediziner es nennen.
- Es zählt der ganze Patient: „Man kann körperliche Probleme nicht vom sozialen Umfeld und der Psyche getrennt betrachten“, sagt Sabine Gehrke-Beck, Allgemeinmedizinerin an der Berliner Charité. Wie lebt jemand? Mit wem? Wo? Wie sieht seine Geschichte aus? Solche Fragen seien entscheidend, um eine Erkrankung zu verstehen. Für Monika Gerhardus, Vorsitzende der Union Deutscher Heilpraktiker (UDH) in Hessen, ist der Mensch einerseits Produkt seiner Gene und andererseits geprägt durch soziale, kulturelle und religiöse Einflüsse.
- Der Hausarzt ist entscheidend: Entscheidend für eine ganzheitliche Medizin sind auch ausführliche Gespräche mit dem Patienten – da sind sich die Experten einig. Für den Patienten heißt das: Augen auf bei der Wahl des Arztes. Vor allem der Hausarzt sei entscheidend für eine ganzheitliche Versorgung. Er hält die Fäden in der Hand, kennt die Vorgeschichte seiner Patienten und ist in der Lage, Zusammenhänge herzustellen.
- So findet man den richtigen Arzt: Aber woran erkennen Patienten, dass ihr Arzt so behandelt? Ein guter Hausarzt nimmt seine Patienten ernst, sagt Gehrke-Beck. Wie reagiert er, wenn der Patient eine Empfehlung anzweifelt? Was, wenn der Patient sagt: „Das möchte ich nicht“? Wischt der Arzt solche Bedenken einfach vom Tisch, ist er vielleicht nicht der richtige, gibt sie zu bedenken.
- Patienten sollten ehrlich sein: Für manche Patienten gehören zur Ganzheitlichkeit allerdings auch alternative Heilmethoden wie Akupunktur oder Phytotherapie, die nicht jeder Haus- oder Facharzt anbietet. Hat jemand an solchen Methoden Interesse, sollte er das dem Mediziner gegenüber offen ansprechen. „Nur wer ehrlich gegenüber dem Hausarzt ist, hat auch die Chance auf eine ganzheitliche Versorgung“, sagt Gehrke-Beck.
- Hausarzt sollte offen sein: Urteilen sollte der Hausarzt darüber nicht, aber er kann seine Bedenken mitteilen. Beispielsweise kann er erklären, inwiefern die Wirksamkeit einer Methode wissenschaftlich bewiesen ist. Schließlich bezahlen Patienten solche Therapien in der Regel aus eigener Tasche. Manches kann aus Gehrke-Becks Sicht auch schaden – etwa weil es den Patienten in eine passive statt in eine aktive Rolle drängt. Der Hausarzt kann ihr zufolge also auch als Berater dienen.