Als die Polizei in André Bamberskis Hotelzimmer im elsässischen Mulhouse (Mühlhausen) kommt, um ihn zu verhaften, wehrt er sich keineswegs. Er scheint gelassen und sogar zufrieden, obwohl ihm ein Prozess droht – denn dasselbe gilt für Dieter Krombach, der sich endlich für eine schreckliche Tat verantworten muss: den Mord an seiner 14-jährigen Stieftochter Kalinka Bamberski. Jahrzehntelang hat ihn ihr leiblicher Vater André unermüdlich verfolgt, überzeugt von einem gewaltigen Justizskandal. Weil Deutschland Krombach trotz einer Verurteilung in Frankreich und eines internationalen Haftbefehls nicht auslieferte, ließ ihn Bamberski schließlich vor dessen Haus im bayerischen Scheidegg (Landkreis Lindau) entführen und über die Grenze nach Mulhouse bringen. Er wollte die französische Justiz auf den Plan rufen, bevor die Strafe zu verjähren drohte.
Die Geschichte ist so spektakulär, dass sie als perfekter Stoff für ein Drehbuch dient – und genau das hat der französische Regisseur Vincent Garenq erkannt. Sein Film „Im Namen meiner Tochter – Der Fall Kalinka“, der bereits in Frankreich lief, kommt am heutigen Donnerstag in die deutschen Kinos. Wie ein Polizeikrimi, in atemlos aufeinanderfolgenden Szenen, zeichnet er Bamberskis zähen Kampf nach: Er ist zu allem bereit, um den Mörder seiner Tochter zur Verantwortung zu ziehen. Glaubhaft imitiert der französische Schauspieler Daniel Auteuil in der Rolle Bamberskis dessen sture Entschlossenheit. Ausgehend von seiner Festnahme im Hotelzimmer wird die Geschichte mit Rückblenden erzählt.
Das Idyll der Familie Bamberski zerbricht, als die Mutter sie verlässt, um künftig in Deutschland mit dem Arzt Krombach zu leben. Sebastian Koch interpretiert ihn im Film als charmanten Lebemann – mit schwarzem Geheimnis. Die 14-jährige Kalinka verbringt die Sommerferien gemeinsam mit ihrem jüngeren Bruder in Krombachs Haus am Bodensee. Eines Morgens liegt sie tot in ihrem Bett, erstickt an ihrem eigenen Erbrochenen.
An ihren Armen finden sich zahlreiche Einstiche. Krombach liefert widersprüchliche Erklärungen dafür, die der Untersuchungsbericht sogar als „befremdlich und grotesk“ beurteilt. Trotz der Feststellung von Kalinkas Genitalverletzungen bei der Autopsie, bei der Krombach selbst anwesend ist, werden die Ermittlungen eingestellt – die Todesursache bleibt „ungeklärt“. Doch Bamberski ist überzeugt, dass Kalinkas Stiefvater sie betäubte, um sich an ihr zu vergehen – und damit tötete. Sein Kampf „im Namen seiner Tochter“ beginnt.
Er strengt ein Verfahren in Frankreich an, bei dem Krombach in Abwesenheit zu 15 Jahren Haft verurteilt wird, verteilt Flugblätter, bedrängt die Medien, kontaktiert den französischen Justizminister und sogar den Präsidenten. Doch vergeblich – obwohl zwischenzeitlich ein deutsches Gericht Krombach für schuldig befindet, eine 16-jährige Patientin betäubt und missbraucht zu haben. Schließlich lässt Bamberski ihn nach Frankreich verschleppen. „Ich hatte nie die Absicht, Selbstjustiz zu betreiben“, rechtfertigt er sich im Film. „Ich habe nur die Feigheit der Justiz ausgeglichen.“
Kalinkas Mutter, gespielt von Marie-Josée Croze, wollte lange nichts von den Vorwürfen ihres Ex-Mannes gegen Krombach wissen. Erst als sie erfährt, dass auch sie betäubt und betrogen wurde, kommen ihr Zweifel. Im Film begegnen sie und Bamberski einander zufällig am Eingang zum Friedhof – und tauschen einen langen, schweigsamen Blick aus.
Es ist eine der intensivsten Szenen – auch für den „realen“ André Bamberski, den die Filmemacher in ihre Arbeit mit einbezogen und der sein Einverständnis gab. „Vor allem in der letzten Viertelstunde haben mich die Emotionen übermannt“, gibt der 79-Jährige zu. 2014 erhielt er wegen Entführung, Freiheitsberaubung und Körperverletzung eine einjährige Bewährungsstrafe. Aber zuvor war Krombach wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu 15 Jahren verurteilt worden, der zurzeit seine Strafe absitzt. Der Kampf ist ausgekämpft. „Kalinka, du wärst heute 44 Jahre alt. Du fehlst mir“, sagt er – nicht nur im Film.
„Es gab Szenen puren Schmerzes“
Der französische Schauspieler Daniel Auteuil spielt in „Im Namen meiner Tochter – Der Fall Kalinka“ den Vater André Bamberski, der den Mörder seiner Tochter entführten lässt, um ihn seiner gerechten Strafe zuzuführen
Herr Auteuil, was hat Sie an der Rolle des Vaters Bamberski gereizt?
Über das persönliche menschliche Drama hinaus kennzeichnet Herrn Bamberski eine unglaubliche Entschlossenheit. Fast 30 Jahre lang führte er einen Kampf gegen die Justiz, um die Wahrheit endlich ans Licht zu bringen und das Versprechen auf Gerechtigkeit einzulösen, das er seiner toten Tochter gegeben hat. Das ist ein echtes Film-Thema.
Wie haben Sie sich auf die Rolle vorbereitet?
Ich bereite mich gewöhnlich nicht wirklich vor, sondern tauche langsam in einen Film ein. Dabei bewahre ich Distanz, auch um mich selbst zu schützen. Ich lasse jenen den Schmerz, die ihn erlebt haben, und dem Zuschauer die Emotion durch die Projektion. Das heißt nicht, dass ich keine Emotionen hatte. Ich empfand Unbehagen. Es gab Szenen puren Schmerzes, wie jene, in der Bamberski erfährt, dass sein Kind tot ist. Heute ist es selten, dass derart düstere Geschichten im Kino umgesetzt werden, weil die Produzenten leichtere Kost wollen. Also hatten wir den Ehrgeiz, den Film künstlerisch gelingen zu lassen, damit es auch diese Art Film geben kann. Ich glaube, durch die Form eines Thrillers hat er ein riesiges Potenzial für das Publikum, aber die Geschichte ist sehr schwarz.
Trotz seiner bitteren Erlebnisse erscheint die Figur des André Bamberski sehr gefasst, mutig und risikobereit.
Bamberski hat nichts mehr zu verlieren. Sein Schmerz ist unbesiegbar. Seine Tochter war 14 Jahre alt und kerngesund – warum ist sie gestorben? Es ist wie ein zweiter Tod, als er bei der Autopsie erkennt, dass sie getötet wurde. Ab diesem Moment wird das Versprechen der Gerechtigkeit, die Obsession, die Wahrheit aufzudecken, sein Antrieb. Er ist ein sehr methodisch vorgehender Mensch, ein ehemaliger Militärangehöriger, der Steuerberater wurde. Mir hat es Spaß gemacht, diese Figur darzustellen.
An einem Drehtag kam André Bamberski ans Filmset. Wie war das?
Es war freundschaftlich, aber wir haben wenig gesprochen. Ich wollte mich nicht an dem Schmerz bedienen, den er erlebt hat. Er sagte zwar, die ganze Geschichte liege schon weit hinter ihm. Aber ich habe ihn in einem Interview nach der Vorführung des Films gesehen, wo er sehr mitgenommen war, weil alles wieder hochgekommen ist. Das hat mich aufgewühlt.
Fragen: Birgit Holzer