Pater Mertes, im Jahr 2010 taten Sie einen spektakulären Schritt: Sie machten die Missbrauchsfälle am Canisius-Kolleg in Berlin öffentlich, das Sie damals leiteten. Damit machten Sie sich nicht nur Freunde. Würden Sie es wieder tun?
Ja, ich würde das erneut tun. Es war so: Ich schrieb den betroffenen Jahrgängen an meiner Schule einen Brief. Mir war klar, dass dieses Schreiben auch öffentlich werden würde. Doch ging es mir um die Kommunikation mit den Betroffenen.
Sie haben damals eine Lawine losgetreten; die Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch startete. Hatten Sie damit gerechnet?
Diese Wirkung ahnte ich nicht. Ich hatte die Schule im Blick, die ich damals leitete – das Canisius-Kolleg. Meine Absichten waren nicht taktischer Natur. Mir ging es um die Aufarbeitung dieser verheerenden Vorgänge in meinem Verantwortungsbereich.
Sie wurden deshalb in der katholischen Kirche angefeindet. Wie gehen Sie damit um?
Sie meinen den Vorwurf der Nestbeschmutzung? Den finde ich lächerlich. Auch von Teilen der Öffentlichkeit wurde ich angegangen; meine Glaubwürdigkeit sollte untergaben werden. Viele Kirchenkritiker konnten es sich nicht vorstellen, dass ein katholischer Kleriker an Aufarbeitung von klerikalen Verbrechen interessiert ist.
Wie geht ein Kirchenmann mit Menschen um, die sich als Opfer sexueller Belästigung melden?
Das Allerwichtigste ist Zuhören. Dabei muss man nicht schon wissen, wie es weitergeht. Zuerst hinhören, zugewandt und ansprechbar bleiben – auch wenn es in einigen Fällen Grenzüberschreitungen und Zumutungen gibt.
Was meinen Sie damit?
Zum Beispiel: Eine betroffene Person brachte einen Freund mit, sie kamen also zu zweit. Später stellte sich heraus, dass der sogenannte Freund ein Journalist war, der das Gespräch heimlich aufzeichnete und später daraus zitierte. Oder ein anderes Beispiel: Während einer Predigt steht ein Mann auf und ruft aus: „Treten Sie ab. Sie sind ja selbst ein Vertuscher.“
Wie geht es Ihnen persönlich? Sie müssen für etwas geradestehen, das Sie weder gewollt noch verursacht haben. Die Täter sind versetzt oder sie leben nicht mehr, und Sie baden es aus.
Ja – aus Überzeugung. Das hängt mit meinem Amtsverständnis zusammen, das katholisch geprägt ist. Die Kirche hat ein starkes Amtsverständnis, zu dem ich Ja sage. Damit stehe ich aber auch in einer Verantwortungstradition, die gewichtiger ist als zum Beispiel die eines ehrenamtlichen Sporttrainers im Verhältnis zu seinen Vorgängern.
Warum kommen die furchtbaren Vorgänge so spät ans Licht?
Ich kann es für Berlin so beantworten: Betroffene Schüler versuchten damals, darüber zu sprechen, aber man hat sie nicht gehört. Das Zweite: Kinder und Jugendliche begreifen oft zunächst nicht, was an ihnen geschieht – und spalten es ab; es kommt erst später, oft in einer Krisensituation wieder hoch, wenn sie bereits erwachsen sind. Dann blättern sie zurück.
Sie leiten das Kolleg St. Blasien mit vielen Internatsschülern. Auch das ist ein sensibler Bereich. Wurden Schüler sexuell belästigt oder berührt?
Ja, einer der beiden Haupttäter des Canisius-Kollegs wurde nach St. Blasien versetzt. Eine verhängnisvolle Kontinuität. Später wanderte er nach Lateinamerika aus und verließ den Orden.
Das Ansehen der katholischen Kirche leidet unter dieser Last massiv. Wie geht es weiter?
Die Gewalt an Kindern und Jugendlichen hat die Kirche in die Krise gestürzt, nicht das Öffentlich-Werden der Gewalt. Die Krise besteht nicht nur aus den Handlungen der Täter. Das Leitungsversagen der Verantwortlichen, auch von Bischöfen und Päpsten, kommt hinzu und ist das eigentliche Drama für die Institution. Das Versagen reicht von der Blindheit, dem Nicht-Begreifen bis hin zur aktiven Vertuschung und Strafvereitelung. Wenn man das erkennt, gibt es auch eine Chance zur Lösung der Institutionskrise.
Die Bischöfe halten den Schlüssel in der Hand. Nun hört man vermehrt die Forderung, man müsse die Bischöfe entmachten.
Nicht entmachten, aber Macht teilen. Selbstaufklärung in monarchischen Strukturen funktioniert nicht. Alle Macht liegt zurzeit in Händen von Papst und Bischöfen. Und diese entzieht sich der Kontrolle. Bei Finanzfragen sind wir da übrigens ein Stück weiter.
Wie könnte eine Kontrolle aussehen?
Bisher gibt es keine kirchliche Verwaltungs- und Disziplinargerichtsbarkeit, die angemessen mit Befugnissen ausgestattet und unabhängig ist. Deshalb können Bischöfe immer sagen: „Ich bleibe im Amt.“ Sie sind unantastbar. Ein anderes Beispiel für Machtteilung: Die Bischofskonferenz in den USA machte kürzlich den Vorstoß, ein unabhängiges Gremium, das mehrheitlich aus Laien besteht, solle Straftaten von Klerikern an den Bischöfen vorbei an den Staatsanwalt melden können. Das geht in die richtige Richtung.
Sie sprechen von den USA. Von den 27 katholischen deutschen Bischöfen hat man solche Vorstöße noch nicht gehört.
Doch, es gibt einige Bischöfe, die einer Gewaltenteilung bejahend gegenüberstehen. Sie scheinen zu begreifen, dass das Kernproblem die Organisation von Machtverhältnissen in der katholischen Kirche ist.
Das werden nicht alle Bischöfe gutheißen. Zum Beispiel in Bayern…
Ja, und auch im Vatikan nicht. Kardinal Müller meint: Laien können nicht über Bischöfe urteilen; das ist Lynchjustiz. Andere meinen: Das monarchische Leitungs-Prinzip ist von Jesus gewollt und gestiftet. Also darf man nicht daran rütteln, weil man sich sonst über den Willen Gottes erhebt, den Jesus der Kirche vermittelt hat. Ich wünsche mir von der Synode in Rom eine kritische Stellungnahme zu solchen Behauptungen.
Was versprechen Sie sich von diesem hochrangigen Treffen in Rom?
Ich hoffe, dass die eigentlichen Konflikte auf den Tisch kommen und Position bezogen wird. Auf der einen Seite stehen die Kräfte des Festhaltens, die alles beim Alten lassen wollen und deswegen die Ursachen für die Krise vor allem in mangelndem Glaubensgehorsam sehen – auf der anderen Seite jene, die sich nach Veränderung sehnen, auch deswegen, weil sich ohne diese Institutionskrise nichts auflösen lässt. Ich wünsche mir, dass diese Linien sichtbar werden und dass der Papst dazu Stellung nimmt. Ich denke, dass Papst Franziskus offen dafür ist.
Was steht noch an bei der Synode?
Das Thema Homosexualität, an dem sich ebenfalls die Geister scheiden: Die einen sagen: „Werft die schwulen Priester aus den Pfarrhäusern und den Orden, dann ist das Problem mit dem Missbrauch gelöst.“ Da interessiert mich doch, wie die in Rom versammelten Bischöfe darüber denken. Ich meine: Diese Strategie ist gerade keine Lösung, sondern vielmehr Teil des Problems.
Wie ist das mit homosexuellen Priestern?
Homosexuelle Männer sind nicht zur Priesterweihe zugelassen. Das ist die geltende Regelung. Einige bischöfliche Stimmen in Deutschland schlagen jetzt vor, dieses Verbot aufzuheben. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Denn zum einen verhindert das Verbot nicht, dass es homosexuelle Priester in der Kirche gibt, und zwar signifikant viele. Zum anderen verhängt es über ihre Existenz ein Tabu, was wiederum nicht förderlich ist für die psychosexuelle Reifung im Klerus. Im Übrigen ist es kein Geheimnis, dass die härteste Homophobie gerade von den schwulen Priestern und Bischöfen kommt, die dies bei sich selbst verleugnen.
Sie würden also auch diese Männer in die Seminare aufnehmen?
Ja. Man kann das Problem nur angehen und auflösen, indem man das Priesteramt für sie öffnet – und damit aller Heimlichkeit den Wind aus den Segeln nimmt.
Was halten Sie von der Freigabe des Zölibats?
Es gibt keinen direkten Zusammenhang zwischen Zölibat und Missbrauch. Das stellt auch die MHG-Studie heraus, die im Herbst 2018 herausgekommen ist. Eine Öffnung des Zölibates allein würde nicht viel bewirken, wenn nicht gleichzeitig die kirchliche Sexualmoral überdacht sowie der Zugang von Frauen zur Weihe einbezogen würde. Nur ein Gesamtpaket gibt Sinn.
Wenn Frauen geweiht werden, dann wird es auch Bischöfinnen geben. Und eines Tages eine Päpstin?
Ja, aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Für Katholiken in anderen Kulturkreisen ist das noch undenkbar. Wer es da allzu eilig hat, wird schnell die Kondition verlieren. Die katholische Kirche ist eine Weltkirche.
Wie geht es weiter?
Ein erster nächster Schritt wäre ganz einfach, dass Frauen zum Diakonat zugelassen werden.
Unterstützt Papst Franziskus einen solchen Schritt?
Ich hoffe ja. Allerdings muss man auch den Widerstand sehen, auf den er in Rom stößt. Denken Sie nur an die kleine Fußnote 351 in seinem Schreiben „Amoris laetitia“, in der es heißt, dass Seelsorger bei der Zulassung von wiederverheirateten Geschiedenen zur Kommunion einen Ermessensspielraum haben. Allein schon damit handelte er sich in der dunkelkatholischen Betonfraktion den Vorwurf der Häresie ein.
Sie sind Jesuit wie der Papst auch, Sie gehören demselben Orden an. Sind Sie auf einer Wellenlänge?
Wir kommen aus demselben Stall. Das Leitprinzip heißt „Unterscheidung der Geister“, also: Neben der Logik des Verstandes gibt es die Logik des Herzens.
Was würden Sie ihm raten, wenn er Sie fragt?
Sage, dass du zwar nicht als Person, aber durch dein Amt ein Teil des Problems bist. Keine Lichtgestalt an der Spitze kann die Missstände alleine abstellen, Du auch nicht. Der Teufel steckt in der Struktur.
Wenn es um den Kampf gegen Missbrauch geht, können Sie als Rektor in St. Blasien also mehr tun als der Papst?
In diesem Sinne: Ja.
Fragen: Uli Fricker
Zur Person
Klaus Mertes, 64, zählt zu den wichtigsten Ordensmännern in Deutschland. Der gebürtige Bonner trat mit 23 Jahren in den Jesuitenorden (SJ) ein und kümmerte sich dort vor allem um die Schulen des Ordens. Als Rektor des Canisius-Kollegs in Berlin tra
t er 2010 an die Öffentlichkeit und machte den mehrfachen Missbrauch an diesem Gymnasium erstmals bekannt. Mertes leitet das Kolleg St. Blasien im Schwarzwald (im Bild).Im Herbst 2018 legten die Bischöfe die erste große Studie zum Missbrauch vor.