Im Sommer 2016 ging der Gipfelkreuzhacker um. Innerhalb von fünf Monaten legten er oder sie insgesamt vier Gipfelkreuze in den bayrisch-österreichischen Alpen nieder. Die vertrauten Zeichen aus Holzstämmen wurden tagsdrauf von Wanderern am Boden liegend gefunden. Eine Erklärung dazu gaben die anonymen Täter nicht ab. Offenbar hatten diese Kulturvandalen ein Problem mit dem christlichen Symbol. Ging es den Hackern um Religion? Rechneten sie mit einer Kindheit ab, deren Verkorkstheit die katholische Kirche geradestehen muss?

Der Vorfall zog Kreise, die markanten Balken wurden neu aufgerichtet. Schließlich stehen sie nicht exklusiv für christlichen Triumph, sondern für den höchsten Punkt der Berge, den man erreicht hat. Wer das Gipfelkreuz sieht, hat den Sauhund überwunden, der den Wanderer auf den letzten Metern begleitet.

Messners Herablassung

Ein alter Bekannter meldete sich damals zu Wort. Der Bergsteiger Reinhold Messner begrüßte die Leerstelle. Er nannte die Kreuze in europäischen Bergen „Humbug“. „Man sollte die Gipfel nicht religiös möblieren“, sagte der Südtiroler damals, und es hörte sich so an, als ob er sich durch die heimischen Hölzer belästigt fühlte, aus denen das Gipfelzeichen geschnitzt ist.

Messners herablassende Worte sind kein Einzelfall. Am Kreuz scheiden sich die Geister seit jeher. Es gilt den einen als Ärgernis und Provokation, den anderen als maximal reduziertes Zeichen für ihren Glauben an ein Leben nach dem Tod. Nicht das Nirwana der Buddhisten, sondern das ewige Leben. Im Römischen Reich galt die Kreuzigung als schlimmste aller Strafen. Sie war noch schmerzlicher zu ertragen als die Vierteilung, da der Tod erst Stunden später eintrat.

Karfreitagsprozession in Hyderabad, Indien: Gekreuzigt zu werden, das galt in der Antike als besonders schändlicher Tod.
Karfreitagsprozession in Hyderabad, Indien: Gekreuzigt zu werden, das galt in der Antike als besonders schändlicher Tod. | Bild: Mahesh Kumar A

Auch Jesus von Nazareth wurde vom römischen Statthalter zu der Todesart verurteilt, die besonders ehrlos war. Gekreuzigt wurden Schwerverbrecher sowie Männer, die sich gegen die staatliche Ordnung gewandt hatten. In diese Kategorie fiel eindeutig Jesus, mindestens aus Sicht des römischen Richters Pontius Pilatus. Ihm waren die religiösen Debatten der jüdischen Gruppen einerlei. Aber einen Aufstand konnte er nicht hinnehmen. Deshalb verurteilte er Jesus zum Kreuzestod.

Erst die Taube, dann der Fisch, dann das Kreuz

Jerusalem galt damit als unruhiges Pflaster und Palästina als undankbare Provinz. Für jede römische Karriere konnte sie gefährlich werden. Wie viel großzügiger und lässiger war der Götterhimmel in der römischen Heimat. Dort war für jeden Platz und für jede etwas dabei war, vom zürnenden Jupiter bis zu kleinen Idolen in den Hausaltären. Und dann die Juden mit ihrem strengen Glauben an einen einen Gott, von dem nicht einmal Bilder gezeigt werden durften!

Auch deshalb reagiert der Gouverneur Pontius so genervt; den religiösen Dauerdisput der jüdischen Gruppen verstand er so wenig wie die Juden ihn verstanden.

Lucas Cranach der Ältere: „Klage unter dem Kreuz“, 1503.
Lucas Cranach der Ältere: „Klage unter dem Kreuz“, 1503. | Bild: Wikipedia

Nach dem Tod von Jesus verschwand das Kreuz buchstäblich. Im wörtlichen ebenso wie im übertragenen Sinne. Das Holzmaterial dürften die Soldaten wiederverwendet haben, der Bedarf war hoch, Golgatha stand voll mit diesen Marterwerkzeugen.

Als Symbol für die langsam entstehende neue Religion dienten freundliche Motive – nicht das düster-verrufene Kreuz. Früh wird die Taube mit dem Ölzweig im Schnabel zum Kennzeichen der ersten Christen.

Zum Code für die heimlichen Treffen der ersten Christen – Soldaten, Sklaven, Dienstmädchen – wird der Fisch. Er war einfach zu zeichnen und diente als Geheimzeichen für die Hausgemeinden. Nur Eingeweihte erkannten in den einzelnen Buchstaben des griechischen Wortes für Fisch die Formel für den hingerichteten Gottessohn, an den sie glaubten: „Jesus Christus, Gottes Sohn, Erlöser“ (Ichthys).

Besser Handymasten als Gipfelkreuze?

Erst Paulus bringt beides zusammen – das Kreuz und den Menschen, der es getragen hat. In seinen biblischen Briefen, vor allem aber im 1. Korintherbrief, geht er aufs Ganze. Ohne Kreuzestod keine Erlösung, hält er fest. Und er schreibt weiter: Wohl wisse er, dass es „den Juden ein Ärgernis, den Griechen eine Torheit“ sei, dass ein so zerschlagener und gedemütigter Mensch die Welt erlösen soll. Doch genau dies war der Fall, fährt Paulus fort. Das Unwahrscheinliche wird zum Funken der Wahrheit.

Paulus hat Jesus nicht mehr persönlich erlebt. Dennoch gilt er als Apostel und als wirkmächtigster aller Kirchenmänner der ersten Generation nach Jesus. Er rückt das Kreuz in die Mitte und macht es zum zentralen Logo der Christen.

Das Schwedenkreuz an der Brücke zur Insel Mainau. Einer Legende zufolge haben die schwedischen Besatzer im Dreißigjährigen Krieg diese ...
Das Schwedenkreuz an der Brücke zur Insel Mainau. Einer Legende zufolge haben die schwedischen Besatzer im Dreißigjährigen Krieg diese Kreuzigungsgruppe zurückgelassen, weil ihnen die Skulptur zu schwer war. | Bild: Fricker, Ulrich

Sie sind aus dem öffentlichen Leben in Europa kaum wegzudenken. Auch wenn sich manche über die ihre Präsenz beschweren und in den Bergen am lieber einen Handymasten mehr sehen wollen, prägt das Symbol doch einen ganzen Kontinent. Es hängt im Herrgottswinkel in vielen Stuben in Süddeutschland wie es natürlich in Kirchen steht oder hängt. Mancher trägt es als Schmuck und Zierde am Hals, andere als Bekenntnis. In seinem Namen wurden Kriege geführt und Friedensschlüsse besiegelt.

Katholiken und Orthodoxe zeichnen die Geometrie der beiden Balken in die Luft, wenn sie sich bekreuzigen. Sie stellen sich unter den Schutz der beiden Linien, die in der Antike für Todesqualen standen.

Die Bischöfe versteckten ihre Brustkreuze

Im selben Jahr, in dem ein selbsternannter Religionskrieger vier Gipfelkreuze absägte, machten zwei hochrangige Kirchenmänner unfreiwillig auf die Sprengkraft dieses Zeichens aufmerksam.

Im November 2016 reisten die Bischöfe Heinrich Bedford-Strohm (evangelisch) und Kardinal Reinhard Marx (katholisch) nach Israel. Beim Besuch des Tempelbergs nahmen die beiden Repräsentanten ihre Kreuze ab. Sie seien dazu aufgefordert worden, sagten sie später, und sie hätten ihre Gastgeber am muslimischen Heiligtum nicht kränken wollen.

Gekränkt waren andere: ihre Mitglieder der Kirchen, die sich ernsthaft fragten, was sie davon halten sollten. Kann man dieses Zeichen ablegen wie man einen Gürtel auszieht, der beim Sicherheitscheck am Flughafen stört?

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