Bei Beileidskarten ist es besonders schlimm. „Liebe Frau Schulze, tief betroffen nehme ich zur Kenntnis...“ Quatsch. „Tiefe Betroffenheit löst bei mir aus, dass ihr Mann ja offenbar jetzt doch endlich...“ Unsinn. „Meine Betroffenheit zur Kenntnis nehmend...“ Nein, ich kann‘s nicht, scheitere schon an einer einzigen netten Zeile. Und das als Journalist. Ist eine Pressekonferenz anberaumt, ein Auftrag vergeben, der Rechner hochgefahren: Ja, dann läuft‘s! Sobald es aber ins Private geht, fehlen mir die Worte.

Ich kenne Ärzte, die rauchen, als wäre Nikotin das neueste Wundermittel aus der Apotheke. Und Meisterköche, die sich von Döner und Hamburgern ernähren. In der Praxis oder im Gasthaus erklären sie ihren Patienten beziehungsweise Gästen lang und breit die Vorteile einer gesunden, stilbewussten Lebensweise. Doch kaum fällt nach Feierabend die Haustür ins Schloss, sind sie auch schon ein anderer Mensch.

Es soll Studien geben wonach Grünen-Wähler besonders häufig im Flugzeug sitzen und damit die CO2-Bilanz belasten, bei CDU und CSU dafür mehr Fälle von unchristlicher Selbstbereicherung auftreten – Stichwort Maskenaffäre. Schnell ist der Vorwurf der Doppelmoral zur Hand, dabei weiß man ja nie: Vielleicht wählen Vielflieger die Grünen, gerade weil sie das Gewissen plagt? Und der Christdemokrat ist der Partei nur beigetreten, um von seiner Neigung endlich loszukommen?

Komiker, die keinen Spaß verstehen

Vor kurzem hatte ich die Gelegenheit, einen prominenten Komiker näher kennenzulernen, der sich vor allem durch scharfe Kritik an der zunehmenden Überempfindlichkeit in Teilen der deutschen Bevölkerung auszeichnet. Er findet, man könne sich kaum mehr die kleinste Bemerkung erlauben, ohne dass irgendjemand gleich beleidigt ist, empört Entschuldigungen einfordert oder sonstwie die Nerven verliert. Entsprechend überrascht war ich über den Anlass unserer kleinen Konversation. Er fühlte sich nämlich – ja, ganz recht – von einer kleinen Bemerkung beleidigt, forderte empört meine Entschuldigung ein und zeigte unverkennbar Nerven.

Erst dachte ich, es müsse sich um jemand anderes handeln, eine E-Mail unter falschem Namen, so was kommt ja vor. Aber dann wurde mir klar: Nein, das ist ebenso folgerichtig, wie der Journalist an einer Beileidskarte scheitert, der Arzt zur Kippe greift, der Koch sich eine Tüte Pommes mit Ketchup reinzimmert. Denn nur wer seinerseits bei jeder Nichtigkeit gleich erhöhten Blutdruck bekommt, muss glauben, anderen ergehe es bestimmt auch andauernd so. Die These von der überempfindlichen Gesellschaft erweist sich als Selbstdiagnose.

Wahrscheinlich sind es also gar nicht Stärken, die den Menschen einen bestimmten Beruf ergreifen lassen, sondern im Gegenteil Schwächen, wenn nicht gar seelische Abgründe. Beruf als lebenslange Selbsttherapie: Wenn‘s gut geht, bekommt die Öffentlichkeit nur die Schritte zum Heilungserfolg zu sehen. Und dieser Gedanke ist durchaus tröstlich.

Zeigt er doch, dass der Mensch bereit ist, hart an sich zu arbeiten, statt faul und satt zu genießen, was ihm ohnehin in die Wiege gelegt ist. „Der vornehme Mensch ehrt in sich den Mächtigen, auch den, welcher Macht über sich selbst hat, der mit Lust Strenge und Härte gegen sich übt“, sagte einmal der Philosoph Friedrich Nietzsche. Er wäre stolz auf uns.