Was macht einen großen Komiker aus? Wer eine Antwort erfahren will, darf nicht ins deutsche Fernsehen schauen. Nicht auf smarte Typen in Nadelstreifen, die andere und ihre Fehler verhöhnen. Auf rhetorisch geschulte Medienprofis, die sich aalglatt ins Sprachkorsett ihres Zeitgeistes fügen. Deren lustvoll gepflegte Fäkalsprache, dieser längst nur noch vermeintliche Tabubruch, höchst unzureichend überdeckt, wie zahm, bieder, feige ihr Spott in Wahrheit ist. Nein, hier finden wir die Antwort nicht.
Im Internet aber ist Komik noch zu finden, aus einer Zeit lange vor den Jan Böhmermanns und Oliver Welkes dieser Tage. Der Name Karl Valentin hat bis heute überdauert, sein Todestag jährt sich am 9. Februar zum 75. Mal. Und wer auf YouTube die Schwarzweiß-Aufnahmen seiner Leistungen (und der seiner kongenialen Bühnenpartnerin Liesl Karlstadt) verfolgt, der sieht den exakten Gegenentwurf zu den Strahlemännern unserer Zeit. Eine wacklige Kreatur auf dünnen Beinen, unsicher beim Gehen, beim Gestikulieren, beim Sprechen.
Das bayerische Volk, sagt der Schriftsteller Herbert Achternbusch in einer Fernsehdokumentation des Bayerischen Rundfunks, sei so viel unterdrückt worden, „dass sie mehr plappern als reden“. Karl Valentin habe mit seinen sprachlichen Verirrungen dieses unbeholfene Plappern aufgenommen. Der Komiker als Teil des geknechteten Volkes, genauso fehlerhaft, genauso verwirrt und hilflos: kein Besserwisser, kein Moralapostel, kein Superstar.

Im Schallplattenladen fragt die Verkäuferin: „Was soll‘s denn für eine Platte sein?“ – „So eine runde, schwarze.“ – „Mit Musik?“ – „Mit Schall!“
Beim Rechtsanwalt: „So, Sie kommen also in Sachen Peter Oberbichler!“ – „Nein, des stimmt nit!“ – „Aber hier steht doch: ‚In Sachen des Herrn Oberbichler‘!“ – „Nein! Die Sachen, die I troag‘, gehör‘n mir!“
Oder bei der Apothekerin: „Hat Ihr Kind vielleicht Würmer?“ – „Naa, das tät ma ja seh‘n!“ – „Ich meine innen!“ – „Da hammer nit neigschaut.“
Es ist die Tragik des kleinen Mannes, die in diesem Plappern sichtbar wird. Seine ständige Sehnsucht nach Bildung, nach Konsum, nach Respekt. Und dabei immer die Ahnung, dass er auch diesmal wieder scheitern wird. Weil nicht das System für die kleinen Leute da ist, sondern die kleinen Leute fürs System. Wer mit Karl Valentin lacht, muss insgeheim mit ihm weinen.

Doch kann es geschehen, dass dem kleinen Mann ausgerechnet in seinem plappernden Scheitern unversehens ein Triumph über den großen Diktator gelingt. „Gut, dass Hitler nicht Kräuter heißt“, entfährt es ihm dann: „Sonst müsst‘ man ihn mit ‚Heil Kräuter‘ grüßen!“ Bis heute gilt es vielen als rätselhaft, wie dieser Künstler einer Verfolgung durch die Nazis entgehen konnte.
Als Teil des geknechteten Volkes ist ein großer Komiker also kein Besserwisser, Moralapostel oder Superstar. Was aber ist er dann?
Kurt Tucholsky hat Karl Valentin in Berlin auf der Bühne erlebt. Seine euphorische Kritik beantwortet diese Frage sehr eindeutig: Er ist ein Philosoph. Und tatsächlich ist eben dieses Befragen von Sprache auf ihren innersten Wesenskern, bis tief hinein in ihre absurden Abgründe ja ureigenstes Merkmal philosophischen Denkens. Bloß, dass der Komiker dazu keine Wissenschaft braucht, sondern sich einer Sprache der Straße bedient.

„Er sei unter den Linden spaziert“, berichtet Tucholsky von einem Sketch (tatsächlich verdankt sich die Etablierung des amerikanischen Sketchs in Europa vor allem Karl Valentin): „mit dem Nebenmann, da hätten sie von einem Radfahrer gesprochen – und da sei gerade einer des Wegs gekommen.“ Was für ein Zufall! Oder etwa nicht? So ein Unsinn, erwidert einer: Unter den Linden kämen täglich tausend Radfahrer vorbei! „‘Na ja‘, sagt Valentin, ‚aber es ist grad einer kumma.‘“
Was Zufall tatsächlich ist und wo der Mensch ihn nur konstruiert, darüber haben sich große Denker die Köpfe zerbrochen. Vielleicht hätten sie besser dem Geplapper der Straße gelauscht.
Ein guter Komiker ist Philosoph, aber wider Willen. „Sicherlich legen wir hier das Philosophische hinein“, schreibt Tucholsky: „Sicherlich hat Valentin theoretisch diese Gedankengänge nicht gehabt. Aber man zeige uns doch erst einmal einen Komiker als Gefäß, in das man so etwas hineinlegen kann!“ Nur ein Gefäß sein, dem Publikum Raum für eigene Deutungen und Gedanken lassen, das unterscheidet den raffinierten Witz von der flachen Zote, den scharfsinnigen Humoristen vom lahmen Possenreißer.
Komiker, die sich in ihrer Sprache, ihrem Gestus zum einfachen Volk bekennen, statt sich darüber zu erheben: Es gibt sie auch heute, aber es sind Ausnahmen, Olaf Schubert vielleicht, gewiss auch Olli Dittrich. Die Glücksmomente der sprachlichen Verirrung, sagt Achternbusch, werden immer weniger. „Weil die Leute heute ja alle so tüchtig werden, diese Laffen, diese Lemminge!“ Ein jeder will nur noch alles ganz richtig machen, selbst auf der Straße sprechen sie jetzt wie im diplomatischen Dienst.
Gerade deshalb bräuchte die Gesellschaft einen Philosophen wie Karl Valentin dringender denn je. Jemanden, der mit seinen sprachlichen Verirrungen so bitterkomisch auf gegenwärtige Bedrohungen reagiert, die ganz so real sind wie vor mehr als 75 Jahren.
Nach dem Atomkrieg, sagte Karl Valentin kurz vor seinem Tod, brauche man mit dem Wiederaufbau gar nicht erst anzufangen: „weil dann alles hin ist – überhaupt alles. Da gibt‘s keine Menschen mehr, keine Häuser und vielleicht nicht a mal mehr eine Weltkugel. Dann gibt es auch keine Regierungen mehr – auch kein viertes Reich und kein fünftes Reich – nurmehr ein Himmelreich. Und dann is‘ – Gott sei Dank – endlich a mal a Ruah – in aller Ewigkeit, Amen!“