Der britische Kronanwalt Jonathan Small betritt Gerichtssäle im Seidentalar und mit Perücke – zu Hause schlüpft er gern in einen Pullover aus seiner Studentenzeit, mit durchgescheuerten Ellenbogen. Auch der deutsche Bischof Gerhard Ludwig Müller mag es im trauten Heim locker und bequem. Er trägt einen Trainingsanzug, denn der ist „leger und muss nicht gebügelt werden“.

Aber nicht nur Autoritäten unterscheiden sich im Freizeitlook mitunter beträchtlich von ihrer öffentlichen Erscheinung. Wenn Britta Kock nach Hause kommt, schlüpft die taffe Hauswartin in ihr wahres „Ich. Das sind meine bequemen Klamotten und Wohlfühl-Sachen“, sagt sie.
Spuren der Macht
Mit Langzeitprojekten wie der Fotoserie „Spuren der Macht“, für die sie Politiker wie Angela Merkel und Gerhard Schröder fotografierte und interviewte, wurde die deutsche Fotokünstlerin Herlinde Koelbl bekannt. In ihrer Serie „Kleider machen Leute“ stellt sie Porträts von Menschen in Berufs- und Freizeitkleidung einander gegenüber. Die Message lautet: Kleidung hat eine Botschaft, mit ihr verändert sich das Ich.

Vier Jahre lang holte sie dafür Menschen in Deutschland und sieben weiteren Ländern vor die Kamera. Den mehr als 30 Doppelporträts in Schloss Bonndorf stellt sie Statements des oder der Porträtierten zu ihrer jeweiligen Berufs- und Freizeitkleidung zur Seite. Vom Koch bis zum Jäger, vom Bergmann bis zum Astronauten und vom Polizisten oder General bis zur Domina und Krankenschwester. In der Summe sind die Aufnahmen ein Porträt der zeitgenössischen Gesellschaft.

Darin erinnert die Serie an August Sanders groß angelegtes Fotoprojekt „Menschen des 20. Jahrhunderts“. In den Zwanzigerjahren porträtierte Sander Menschen mit unterschiedlichen Berufen neben Angehörigen gesellschaftlicher Gruppen; Alfred Döblin sprach von einer „Soziologie mit Bildern“. Zwischen der privaten und der beruflichen oder öffentlichen Person musste Sander nicht unterscheiden, beide stimmten oft bis zur Deckungsgleichheit überein. Ein Mensch war, was der Beruf und die damit verbundene soziale Stellung von ihm verlangten.
Individuum im Mittelpunkt
Heute sind Menschen in Charakter und Persönlichkeit viel weniger mit ihrem Beruf und der damit verbundenen Rolle verbandelt als früher. In Koelbls Serie erscheinen sie vor allem als Individuen.

So gesehen erscheint der Titel der Serie unterkomplex. Dass Kleider Leute machen, ist eine Binse und wusste man schon vor Gottfried Kellers gleichnamiger Novelle. Der Polizist, den seine Frau in Uniform „sehr schick“ findet, weiß um seine Wirkung – speziell auch aufs weibliche Geschlecht. Nicht minder schinden der Soldat und der Türsteher in Uniform Eindruck. Selbst dem Selbstbewusstsein der eigentlich schüchternen Pagin wachsen in ihrer adretten Uniform Flügel.

Die meisten Porträtierten fühlen sich dennoch in Jeans und T-Shirt wohler als in ihrer Arbeitskluft: Mit Uniform und Berufskleidung fallen die Zwänge der beruflichen Existenz von einem ab. Der Koch Sebastian Völz spricht hier für viele: „Wenn ich meine Jeans und T-Shirt anziehe, ist es so, als ob ich einen Schalter umlegen.“ Erst wenn der Private Equity Investor, der in seiner Freizeit „zur Entspannung“ Shorts anzieht und barfuß geht, kann er seinen „Gedanken freien Lauf lassen.“
Berufskleidung als Panzer
Die privat prüde Domina empfindet ihr rattenscharfes Berufskostüm sogar wie einen beengenden „Panzer“. Selbst Maximilian Wagner, seines Zeichens Mönch, fühlt sich am Abend in leichten Klamotten freier.
Doch nicht jeder streift in der Freizeit die „Diensthaut“, wie der Butler Ricardo Dürner seinen Frack bezeichnet, ab. In etlichen Fällen wirkt das Berufliche outfitmäßig bis ins Private hinein. Der UNO-Botschafter Hans-Heinrich Wrede besitzt fünf Anzüge, „für jeden Anlass passend einen“. Abends wechselt er lediglich Hemd und Krawatte: „dann ist das schon mein „Privatdress“. Ausgerüstet mit Mobiltelefon, Notizblock und Bleistift, ist er so selbst in der Freizeit stets „bestens gewappnet“ und gewissermaßen im Dienst, im Diplomatensprech „jederzeit verhandlungsbereit“.
Niemals ohne Fliege
Der Promianwalt Peter Raue macht kleidungsmäßig keinen Unterschied zwischen Beruf und Freizeit, er legt nur auf eines wert: „Ich gehe grundsätzlich nie ohne Fliege aus dem Haus, da fühle ich mich angezogen und sicher“ – ob als Anwalt oder privat. „Entweder Fliege oder gar nichts“: Oben ohne fühlt er sich buchstäblich nackt, wie augenzwinkernd auch das einzige Nudistenfoto der Schau andeutet.
Den von Koelbl Porträtierten in einem Ratequiz den jeweiligen Beruf zuzuweisen, könnte schwierig werden. Häufig läge man wohl falsch. In Jeans und kariertem Hemd sieht Johann Berger, ein hoher deutscher Militär, aus wie du und ich, man würde ihm, dem früheren „Rock ‚n‘ Roller“ – „Freiheit und Woodstock war unsere Welt“ – jeden Beruf zutrauen
Längst prägt der Beruf den Menschen nicht mehr im selben Maß wie einst als sozialen Typus und Charakter. Eher schmiegt sich, sollten die Porträts der Schau einigermaßen repräsentativ für die Gesellschaft sein, der individuelle Charakter für die Dauer der Arbeitszeit der beruflichen Rolle an. Um sie in der Freizeit wieder abzustreifen wie eine Haut – und wieder ganz er oder sie selbst zu sein.
Bis 25. Juli auf Schloss Bonndorf. Öffnungszeiten: Mi. bis Sa. 12-17 Uhr, Do. bis 19 Uhr, So 11-17 Uhr.