Ich weiß nicht mehr, wie viele von ihnen ich in den letzten Jahrzehnten gesehen und gelesen habe. Dokumentarfilme über den „Fitnesswahn“, „Schönheitswahn“, „Muskelwahn“. Artikel über Muskelsucht, Essstörungen, Narzissmus, zerstörerischen Körperkult. Nicht nur, aber gerade unter Jugendlichen. Die Verlautbarungen über den heutigen Umgang mit dem Körper vermitteln den Eindruck, es existierten einzig Opfer: Botox-Opfer! Instagram-Opfer! Doping-Opfer!
Notorisch blenden die besorgten Diagnosen zum Elend der Körperkultur Teile der Wirklichkeit aus. Zwar gibt es die erwähnten Negativphänomene. Aber nicht nur. Und je mehr man auf ihnen herumreitet, desto größer ist die Gefahr, sie populär zu machen.
Zu den ausgeblendeten Teilen der Wirklichkeit zählt die Tatsache, dass intensive Arbeit am eigenen Körper nicht in Wahn und Sucht ausarten muss und dies auch faktisch nicht immer tut. In vielen Fällen ist sie etwas Bereicherndes und Sinnstiftendes. Gerade bei Jugendlichen liegen die Ursachen für Probleme eher in dysfunktionalen Familien oder gesellschaftlichen Versäumnissen begründet als in Hanteln, Proteinshakes und Brokkoli.
Erstellte man seriöse Statistiken, so zeigten diese wohl, dass der Großteil der Menschen, die Bodybuilding oder andere intensive Formen körperlicher Selbstoptimierung betreiben, ein recht normales Leben führen (was immer „normal“ auch bedeuten mag).
Manche, darunter der bekannte Psychologe Nico Rose, haben durch „eine Unmenge Sport“ ihre Depressionen bekämpft. Längst nicht alle, die ihre Körper intensiv formen, sind also „süchtig“ – mitunter ist das eigene Umfeld so sehr auf Mäßigung und Vernunft bedacht, dass einen eher dieser Zustand, lapidar gesagt, verrückt macht. „Pure Vernunft darf niemals siegen“, singt die Popband Tocotronic. Menschen streben nun mal nach Exzess, Ekstase, Entgrenzung, Härte, Intensität, und ja, auch Schmerz. Frei gewähltem Schmerz, wohlgemerkt.

Wohl den Gesellschaften also, die intensive körperliche Selbstformung nicht reflexhaft pathologisieren, die nicht mit spätbildungsbürgerlichem Dünkel Buch über Bizeps stellen, und die ihre „Challenges“ lieber beim CrossFit-Training, in einer Kampfsport wie Mixed Martial Arts oder beim Ultramarathon finden als auf realen Schlachtfeldern.
Amüsanterweise hielt man der Jugend früher ja vor, faul zu sein, verlottert auszusehen, Drogen zu nehmen, Fast Food zu futtern, körperlich zu degenerieren. Heute lautet der Vorwurf, kapitalistische Highperformer zu sein, Hühnerbrust aus Tupper-Dosen zu essen, allzu emsig Leibesübungen zu absolvieren und zu großen Wert auf gute Kleidung und Gesundheit zu legen. Ja, was denn nun?
Entscheidend dafür, ob Fitness, Bodybuilding und Co. in Zwangsstörungen münden oder nicht, ist, in welche Sinnzusammenhänge sie eingebettet werden. Es macht einen Unterschied, ob jemand seinen Körper optimiert, weil es halt eine Mode ist, die via Instagram & Co. lanciert wird, oder ob er die Optimierung reflektiert und auf eigensinnige Weise interpretiert. Für einen solch eigensinnigen Umgang mit dem Körper sollten wir werben.
Natur ist längst Kultur
Ein Zurück zum angeblich „natürlichen“ Körper, mit dem der Mensch auf harmonische Weise „eins wird“, gibt es hier jedoch nicht. Das ist billige Esoterik. Wir leben in einer rundum technisierten, transformierten Welt. Natur ist längst Kultur und umgekehrt. Der Körper bildet da keine Ausnahme.
Erkennen wir diese Tatsache an, so wird die Körperformung uns nicht ins psychopathologische Elend stürzen, im Gegenteil: Gelassen lässt sich die Optimierbarkeit des Körpers, innerhalb seiner genetischen, umwelt- und zeitbedingten Grenzen, als seine eigentliche, eben dynamische statt statische Natur erleben. Die Erfahrung, den eigenen Körper durch intensives Training verändern zu können, kann dabei zur Inspiration werden, den eigenen Geist, das eigene Herz, und vielleicht sogar die Welt da draußen zu verändern.
Der Hardcorepunk-Musiker und Kraftsportler Henry Rollins schrieb 1994: „Ich habe noch nie einen wirklich starken Menschen getroffen, der keinen Selbstrespekt hatte. Ich denke, dass sich eine Menge nach innen und außen gerichteter Verachtung als Selbstachtung tarnt. […] Stärke zeigt sich durch Charakter. Muskelmasse ist nicht immer gleich Stärke. Stärke ist Freundlichkeit und Sensibilität. Stärke bedeutet zu verstehen, dass deine Kraft sowohl physisch als auch emotional ist.“ Im Jahr 2011 sagte er in einem Interview: „Das Training hat mir gezeigt, dass ich etwas an mir ändern und etwas erreichen kann. […] Das war eine große Hilfe für alles andere.“
Zu solchen Einsichten gelangt man nicht einfach nur durch hartes Pumpen, sondern durch mindestens ebenso hartes Studium der Geschichte der Körperkultur, durch die Diskussion der eigenen Trainingspraxis mit Freunden und durch kontinuierliche Selbstreflexion. Nur auf diese neugierige, kritische, forschende Weise lässt sich herausfinden, welcher Körper zur eigenen Persönlichkeit passt, was Substanz hat und was nur „Muscle, Smoke & Mirrors“ (“Muskeln, Lug & Trug“) ist – so hat der Körperkulturhistoriker Randy Roach seine ideologiekritische Auseinandersetzung mit den Mythen der Bodybuildingindustrie betitelt.
Anstatt sich also an den größten Fehlern körperlicher Selbstoptimierung abzuarbeiten, sollten sich die Publikumsmedien häufiger darauf konzentrieren, wenn nicht paradiesische, so doch interessante, originelle, subversive Formen der Körpergestaltung zu präsentieren. Beispiele dafür gibt es zuhauf. Die hessische Powerlifterin Eva Butzen alias Squatilia etwa konterkariert auf Instagram mit ihrem wuchtigen Körper das Figurideal graziler Influencerinnen wie Pamela Reif.
Squatilias auf YouTube dokumentiertes Training mit dem gewitzten Strongman Dennis Kohlruss zeigt, dass man zugleich intensiv „pumpen“ und kritisch über die sozialen Kontexte des Pumpens, etwa über Genderrollen, nachdenken kann. Bei alldem geht es nicht darum, Pamela Reif doof und Squatilia toll zu finden, die einen Körper gegen die anderen auszuspielen. Sondern darum, zu einem eigenständigen Urteil zu kommen, warum man das eine Körperbild dem anderen vorzieht.
Nichts spricht per se gegen das Schönheitsideal von Pamela Reif, aber alles spricht dagegen, es einfach als normativ anzuerkennen. Am Ende des Tages sollte man zu einer freiheitlichen und vielfältigen, kurz: aufgeklärten Körperkultur finden, bei der die Praxis immer auch eine Form kritischer, konstruktiver Theorie beinhaltet.
Für die body-buildende Konzeptkünstlerin Kathy Acker etwa war das Fitnessstudio eine „reiche und komplexe Welt“ voller philosophischer Einsichten. In einem Essay schreibt sie: „Indem ich versuche, meinen Körper mit den Methoden des Bodybuildings zu kontrollieren und zu formen, und immer wieder daran scheitere, kann ich dem begegnen, was sich nicht endgültig kontrollieren und verstehen lässt: dem Körper.“
Vielleicht ist das ja die höchste Form körperlicher Selbstoptimierung: die Einsicht in ihre Grenzen. Doch dafür muss man es auch wagen, an die körperlichen Grenzen gehen.